Der Zuschauer, der nie verschwindet - anhören
Über das Alleinsein, die Sehnsucht und das, was immer bleibt
Manchmal fühle ich mich so allein wie damals, als ich klein war und nachts in meinem Bett lag. Die Lichter der Autoscheinwerfer zogen über die Zimmerdecke, begleitet von einem dumpfen, dröhnenden Geräusch. Dann war es wieder still. Nur ich, mein Herzschlag, mein Atem – und dieses Gefühl, ganz allein zu sein. Niemand war da, der gerade an mich dachte. Manchmal raubte mir diese Erfahrung den Atem, manchmal weinte ich, weil sich alles in mir zusammenzog. In solchen Momenten dachte ich an Menschen, die ich liebte und die weit weg waren. Ich sehnte mich nach ihrer Nähe, nach ihrer Liebe, nach ihrer Gegenwart.
Heute weiß ich: Ich bin nicht die Einzige, die das kennt. Jeder Mensch kennt diese Einsamkeit. Jeder hat Augenblicke, in denen er nur mit sich selbst ist. Völlig auf sich zurückgeworfen als Einzelner, wie in einem dunklen Keller, den keiner, außer ihm, je betreten hat. Es gibt Menschen, die die meiste Zeit ihres Lebens so leben. Allein. Für sie sind die Nachbarn oft die einzigen Stimmen, die sie täglich hören. Ein „Hallo“ vielleicht – das war’s. Die Türen schließen sich. Die Zeit rinnt weiter. Wir verkümmern ohne Spiegel. Ohne ein anderes Gesicht, das uns ansieht. Ohne ein Wort. Wir verlieren uns in unseren Gedanken, wenn sie der einzige Widerhall sind, den uns die Welt gibt.
Was bedeutet es, bei sich zu sein – auf eine weniger schmerzvolle Weise? Vielleicht bedeutet es, sich zu vergessen, statt sich an etwas, wie die Gedanken, zu verlieren. So, dass man nicht mehr ständig um sich selbst kreist. Vielleicht so, wie ein Tier oder das Meer. Sie sind Fließende im Fluss des Lebens. Sie erleben alles, wie es ist.
Man geht auf im Dasein. Lässt die Gedanken vorbeiziehen, wie dunkle Vögel am Nachthimmel. Man ist da – ohne ein besonderes Gefühl, viel eher weil man sich nicht mehr dauernd infrage stellt. Eine leise Form der Gegenwärtigkeit.
Der Mensch als Gott im Vergessen
Es gibt Menschen, die sehr viel fühlen. Und solche, die sehr wenig fühlen. Beide haben es nicht leicht. Beiden erscheint das Leben oft wie eine Verknotung und nicht leicht und frei. Mein Leben ist schwierig – und auch leicht. Es ist nie nur das eine. Es ist ein steter Wechsel zwischen Zuständen. Die schwierigsten sind jene, in denen sich nichts bewegt, in denen alles sinnlos erscheint. Flach. Leer. Wie ein Nebel, der mich hinabzieht in eine Bedeutungslosigkeit, die jede Motivation überflüssig macht. Wozu sich bewegen? Wohin? Für wen? Für was?
Warum nicht einfach sterben? Das wäre vielleicht mal was Neues. Ich habe die Liebe erlebt, den Hass, den Zweifel, die Ekstase. Das Vergnügen, die Hoffnung, den Verlust, das Ende – das dann doch nicht das Ende war. Ich habe hinter alle mir möglichen Kulissen geblickt. Ich wollte alles wissen. Alles. So weit kann es gehen, ja. Denn der Geist will erfahren. Er will erleben. Und ich bin da, um diese Erfahrungen zu ermöglichen. Ich bin die Krönung der Erfahrung, die auf ihrem letzten Grund, nichts als ein Schleier ist, der vorüberzieht. Wie ein Traum, wie ein Gedanke oder ein nachhallendes Gefühl …
Gott liebt alle Erfahrungen. Auch die, in denen er sich verliert – in Depressionen, Gewalt, in dunklen Gedanken. Er hat vor keiner Erfahrung Angst. Ihm kann nichts geschehen. Er ist in allem nur der Zuschauer – selbst wenn er vergisst, dass er zuschaut. Er erschafft jede Erfahrung und stürzt sich zugleich in sie hinein. Ohne Angst vor der Angst. So erlebt er sich sogar als Mensch, der Gott vergessen hat. Und er liebt den Menschen so sehr, dass er ihn nicht erinnern muss. Denn das Leben selbst, mit all seinen Energien, die nirgendwo anfangen und nirgendwo aufhören, die in- und durch einander walten, trägt ihn dorthin, wo er sich selbst so tief verliert, dass er vielleicht, ganz unerwartet, Gott erkennt: „Er“ war immer da. Auch in der größten Not.
Der stille Blick, der uns nie verlässt
Egal, was wir glauben – an Gott oder an gar nichts, an Sinn oder Sinnlosigkeit, an Licht oder Dunkel – der Mensch ist frei, alles zu glauben, was er will. Auch, dass er allein ist, verloren, vergessen, zurückgelassen. Auch, dass er sich halten muss, überleben, leisten, kämpfen. Die Welt ist nur so, wie sie ist, weil genug Menschen sie so glauben. Dabei könnte sie ganz anders sein. Man braucht nur eine kritische Masse – in sich, nicht einmal im Außen.
Wenn etwas nicht mehr geglaubt wird, weil es erschüttert wird, zerbricht oder sich als falsch zeigt, fällt es ab. Und etwas Neues tritt an seine Stelle.
Irgendwann, wenn nichts mehr zählt und uns dadurch auch nichts mehr ablenkt, setzen wir uns einfach hin und haben eine der tiefsten Erkenntnisse, die möglich ist: Wir haben uns nie auch nur einen einzigen Millimeter bewegt. Wir waren immer am selben Ort. Seit den Kindheitsnächten, in denen wir an die Zimmerdecke starrten, bis zu den Nächten jetzt, in denen wir uns gottverlassen fühlen. Wir waren nie „fort“. Auch wenn wir im Auto saßen, im Zug, im Flugzeug oder zu Fuß die Welt suchten – wir haben uns immer nur zugesehen, wie wir all das taten.
Und wir tun es noch immer. In jeder Sekunde. Auch in der größten Einsamkeit sehen wir uns zu. Still. Ohne Regung. Ohne Meinung. Jetzt gerade. Ist es nicht so? Dieser Zuschauer geht nie. Niemals. Er ist da – immer. Er sieht Dein Leben. Und mein Leben. Er ist wie ein Lichtkranz, der alles umhüllt, alles schützt, alles hält. Von der winzigsten Mikrobe, die im Dunkeln ihren Platz sucht, bis zum wütendsten Tornado, der alles zerstört. Alles ist in Licht gehüllt. In ein Sehen, das alles still wahrnimmt.
Heb Deinen Blick, lass ihn schweifen oder schließe die Augen. Und schau, ob Du ihn bemerkst – diesen unsichtbaren Zeugen. Diese stille Gegenwart. Nicht fremd. Nicht feindlich. Einfach nur: da.
Und dann wirst Du, auf eine seltsame, stille Weise, die mit der Zeit immer vertrauter wird, erkennen:
Du warst nie allein.
Und Du wirst es niemals sein.
Dieser Zeuge ist der größte Trost, den es gibt. Er ist einfach da. Und nimmt uns so, wie wir gerade sind. Ohne Ansprüche. Ohne Erwartung. Er ist nicht manipulierbar, weil er sich keinen Millimeter bewegt. Er verändert sich nie. Fällt er Dir auf, wird er zum Spiegel Deiner Wahrheit, in der sich alles zeigt, was Dich bewegt. Einsamkeit, Freude, Lust, Angst, Sehnsucht, Trauer, Anstrengung oder die Kraft der Schöpfung … Vor diesem Spiegel gilt alles. Er sieht nie weg. Und er urteilt nie. Er ist die Anbindung an Deine Freiheit. Durch ihn wird sie Dir bewusst. Und wenn Du seiner wahrhaftig gewahr wirst erkennst Du die tiefste Verbindung: Er und Du seid eins. Kein Unterschied.
Ab diesem Moment bestimmt Dich nur noch eines: Mitgefühl. Für Dich selbst und alle lebendigen Wesen um Dich herum. Jeder Impuls, der etwas ändern will, ist erloschen. Du bist der reine Spiegel für all Deine Empfindungen. Du empfängst Dich sehend, in Mitgefühl ohne wertend einzugreifen. Und auf die gleiche Weise empfängst Du auch die Welt, wie sie ist. Das ist die Gnade – diese unendliche Nähe, in der jeder Mensch existiert. Auch wenn er es nicht weiß.
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.
Liebe Nicole,
hier sprichst Du etwas an, was ich als Dilemma erlebe. Etwas ändern zu wollen führt in der Tat oft zu innerem Widerstand, Kampf, Stress und vermehrtem Unfrieden mit dem was ist.
Andererseits haben viele Veränderungen auch Gutes gebracht wie z.B. Abschaffung der Sklaverei, Gleichberechtigung, Naturschutz etc.
Es kann also durchaus sinnvoll sein, etwas verändern zu wollen und vielleicht auch nötig.
Wie kann ich auf der einen Seite akzeptieren, was ist und gleichzeitig mich für wohlwollende Veränderungen engagieren?
Darauf hab ich keine Antwort. Hast Du eine?
Lieben Gruß
Sabine
Liebe Sabine,
danke für Deinen Kommentar und Deine ehrliche Frage. Ja, das ist ein echtes Dilemma – und ich glaube, genau darin liegt die Einladung zum tieferen Hinschauen.
Für mich geht es beim „Nur-Schauen“ nicht um Gleichgültigkeit oder Passivität. Ganz im Gegenteil: Im reinen Schauen liegt oft die größte Form der Präsenz und der Akzeptanz. Es ist wie ein inneres Stillwerden, ein ehrliches Lauschen – ohne sofort etwas verändern zu wollen. Dann zeigt sich überhaupt erstmal „die (innere) Wirklichkeit“.
Du sprichst wichtige historische Veränderungen an, und ja – viele davon waren nötig und heilsam. Aber ich frage mich: Woher kam der Impuls zur Veränderung wirklich?
Aus einem tief empfundenen „So darf es nicht weitergehen“ – oder aus einem intellektuellen Ideal? Aus Mitgefühl – oder aus Unruhe?
Was ich beobachte:
Wenn ein Veränderungsimpuls aus tiefer Klarheit und echtem Fühlen entsteht, dann handeln wir oft unmittelbar, einfach, direkt.
Wir diskutieren nicht mehr lange darüber, ob wir helfen „sollten“. Wir tun es. Wir bringen das Paket zur Nachbarin. Wir melden uns für ein Projekt. Und selbst wenn’s uns herausfordert – es fühlt sich richtig an.
Schwierig wird’s dann, wenn das Wollen aus einem inneren Unfrieden oder Mangelgefühl entsteht – oft unbewusst. Dann entsteht Druck. Dann kämpfen wir gegen etwas, statt aus etwas heraus zu handeln.
Ich habe keine fertige Antwort – aber ich beobachte in mir selbst immer wieder diesen feinen Unterschied:
Handeln aus Klarheit oder Handeln aus Unruhe.
Dann hilft mir die Frage:
Will ich gerade wirklich verändern – oder will ich nur, dass etwas aufhört weh zu tun?
Dann geht es nämlich nicht darum anderen zu helfen, sondern in mir selbst etwas nicht anzunehmen, sondern
wegzuschieben. Dann dient die Hilfe in erster Linie meiner Erleichterung.
Und damit bediene ich nur einen inneren Automatismus, der letztendlich niemandem hilft und nichts
verändert.
Danke Dir für deinen Beitrag – er regt zum Reflektieren an.
Herzlich, Nicole
Liebe Nicole,
danke für Dein vertieftes Hinschauen. Das finde ich sehr interessant. Doch stellt sich mir die Frage: Ist das denn immer ein Gegensatz, der eigene Schmerz beim Anblick von etwas, was nach Veränderung ruft und innere Klarheit?
Als fühlendes Wesen empfinde ich Schmerz wenn ich miterlebe, dass Mensch und die ihn umgebende Natur leiden. Und ja, dann hilft es auch meinem eigenen Schmerz, wenn sich etwas zum Besseren ändert und der Schmerz der Empathie kann ein Antriebsmotor sein, so lange man den Schmerz bewusst reflektiert und und nicht unbewusst dagegen an-agiert, oder?
Nochmal danke für Deine wirklich spannende Antwort!
Sabine
Liebe Sabine, ja. Es beruhigt Dich. Kurzfristig. An der Oberfläche. Aber es lässt Dich nicht in Kontakt mit dem Ursprung von Schmerz gehen. Du bleibst daran gebunden. LG Nicole
Liebe Nicole,
sanftes, stilles, zartes, neutrales, gleich-gültiges, wertfreies, kühles, klares, „Zuschauen“, das immer (da) ist.
Sich aber sofort zu verstecken scheint, sobald ich (der Verstand) näher hinschauen möchte. Dieser vorwitzige, arrogante Möchtegern-Gott will überall seine Nase dabei haben. Doch schon steht der Zuschauer wieder hinter ihm und tippt ihm lächelnd auf die Schulter.
Ich bewundere die Worte, die du dafür gefunden hast.
Vielen Dank !
Liebe Grüße Christoph
Ja, Christoph, das ist ja das Schöne…Er lässt sich nicht „kriegen“. Und ist trotzdem immer da. Irgendwann können wir aufgeben und ihm einfach nur vertrauen. Dann schaut keiner mehr nach ihm. Und nichts fehlt. LG Nicole
Jetzt habe ich diesen Blog, den davor und den . . . schon mindestens 7X gelesen . . bis er von selbst,als Schatz, in mein
Herz gefallen ist und hier weithin leuchtet in erweiterte Räume, in denen die Neugier ungehemmt tanzen kann. Da lacht das Herz, denn Deine Worte gehen echt zu Herzen, Nicole🔥. Hab großen Dank dafür.