Die Welt als Traum im Bewusstsein- anhören
Bernardo Kastrup ist eine der interessantesten Stimmen der Gegenwart, wenn es darum geht, unser Verständnis von Realität, Bewusstsein und Welt grundlegend zu hinterfragen. Er ist promovierter Informatiker, Philosoph, ehemaliger CERN-Forscher – und zugleich jemand, der mit analytischer Präzision eine spirituelle Wahrheit verteidigt, die viele Menschen intuitiv spüren, aber kaum rational fassen können: Alles, was wir erleben, geschieht im Bewusstsein. Nicht Bewusstsein ist in der Welt, sondern die Welt ist im Bewusstsein. Diese Umkehrung stellt die gängigen Annahmen über Wirklichkeit auf den Kopf – und macht zugleich tiefen Sinn, wenn man sie zu Ende denkt.
Kastrup gehört zu den prominentesten Vertretern des metaphysischen Idealismus. Diese philosophische Richtung besagt, dass Bewusstsein die grundlegende Substanz der Realität ist, nicht Materie. Alles, was wir erfahren – Körper, Objekte, Gedanken, Emotionen, selbst Raum und Zeit – sind Erscheinungen in diesem Bewusstsein. Es gibt keine Welt „da draußen“, unabhängig von Erleben. Oder wie Kastrup es in seinem Buch The Idea of the World ausdrückt: „Nicht das Gehirn erzeugt Bewusstsein – das Gehirn erscheint im Bewusstsein.“
Die Metapher des Traums
Um seine Sichtweise verständlich zu machen, verwendet Kastrup oft die Metapher des Traumes. Wenn wir träumen, erleben wir Menschen, Räume, Handlung – alles scheint real. Und doch geschieht alles in unserem Bewusstsein. Es gibt in diesem Moment keine „Außenwelt“. Genauso, sagt er, ist es auch im Wachzustand: Der Unterschied ist nicht ontologischer, sondern lediglich kohärenzbezogener Natur.
Der Wachzustand ist konsistenter, beständiger – aber nicht „realer“. „Die Welt ist der Traum des einen Geistes – ein kohärenter, beständiger Traum, den wir Realität nennen“, schreibt er in Why Materialism is Baloney. Diese Sichtweise hat nichts mit Flucht aus der Realität zu tun, sondern mit einem tieferen Verständnis dessen, was Realität überhaupt ist. Denn wenn alles nur im Bewusstsein erscheint, dann ist das, was wir für „objektiv“ halten, in Wahrheit die geteilte innere Erfahrung eines universellen Geistes, der sich in unzähligen Formen ausdrückt.
Individuen als lokale Perspektiven
In diesem Modell sind wir nicht voneinander getrennt, sondern lokalisierte Perspektiven innerhalb desselben Bewusstseins. Unsere Körper, unsere Gehirne, unsere Gedanken sind Erscheinungen im Strom eines universellen Geistes. Der Eindruck von Getrenntheit entsteht durch das, was Kastrup „lokale Dissoziation“ nennt: Ein Vorgang, durch den das eine Bewusstsein vorübergehend so wirkt, als sei es in viele Einzelne aufgespalten.
Aber in Wahrheit bleibt es immer eins. Wenn wir sterben, so Kastrup, endet nicht das Bewusstsein, sondern nur diese bestimmte Perspektive darauf: „Wenn Du stirbst, fällt Deine persönliche Perspektive in das universelle Bewusstsein zurück. Das ist kein Ende, sondern ein Aufgehen“, sagt er in einem Interview mit Science and Nonduality. Diese Sichtweise ist nicht nur beruhigend, sondern auch logisch konsequent – wenn man erst einmal akzeptiert, dass nicht das Gehirn Bewusstsein produziert, sondern dass das Gehirn eine symbolische Darstellung eines Bewusstseinsprozesses ist.
Bewusstsein ist nicht lokal – es ist fundamental
Eines der stärksten Argumente gegen den Materialismus ist für Kastrup, dass sich Bewusstsein nicht lokalisieren lässt. Es gibt kein Zentrum im Gehirn, aus dem das „Ich“ kommt. Vielmehr scheint das Gehirn eher wie ein Filter zu funktionieren, der die unbegrenzte Weite des Bewusstseins auf eine individuelle Perspektive reduziert.
Damit steht Kastrup in einer Linie mit vielen mystischen und spirituellen Traditionen – von Advaita Vedanta über Plotin bis zu Meister Eckhart. Doch er nähert sich diesem Verständnis nicht aus einem Glaubensimpuls heraus, sondern mit philosophischer Strenge, analytischer Klarheit und einem tiefen Vertrauen in die Kraft des Denkens jenseits materialistischer Dogmen.
Eine spirituelle Philosophie – ohne Esoterik
Obwohl seine Sprache rational bleibt, ist Kastrups Philosophie tief spirituell. Denn sie führt uns in eine Erkenntnis, die mystische Schulen aller Zeiten immer wieder beschrieben haben: Dass alles eins ist, dass Getrenntheit eine Illusion ist, und dass die Quelle unseres Seins nicht im Persönlichen liegt, sondern im Unpersönlichen, dem einen Bewusstsein, das sich selbst in Form der Welt träumt.
„Spiritualität beginnt dort, wo die Trennung endet. Wenn wir erkennen, dass alles im Bewusstsein geschieht, verschwindet die Illusion von Getrenntheit“, schreibt er in More Than Allegory. Für mich persönlich ist diese Aussage zentral. Denn auch in meiner eigenen Arbeit – im Schreiben, im Coaching, im inneren Forschen – dreht sich alles letztlich um genau dieses Wiedererkennen: Dass wir nicht das sind, was wir erleben – sondern das, in dem alles Erleben geschieht. Dass wir nicht Subjekte sind, die eine Welt sehen – sondern dass das, was wir „Welt“ nennen, in uns erscheint. Nicht in einem Ich, sondern im offenen, grenzenlosen Raum des Seins.
Mein Zugang: Tiefer als jedes Ich
Was Kastrup formuliert, entspricht meiner eigenen inneren Erfahrung: Ich bin nicht Nicole. Ich bin nicht mein Körper. Nicht meine Gedanken. Nicht meine Geschichte. Ich bin auch nicht „mein“ Bewusstsein. Ich bin das Bewusstsein selbst, das weder mir gehört noch lokalisiert ist. Alles, was ich wahrnehme, alles, was ich denke, fürchte, wünsche – erscheint in mir. In einem Raum, der keine Begrenzung kennt.
Wenn ich über Bewusstsein schreibe oder Menschen begleite, dann geschieht das aus genau dieser Perspektive heraus. Als lebendige Wahrheit, die sich in jedem Moment neu zeigt.
Kastrups Theorie ist für mich deshalb nicht nur ein philosophisches Modell, sondern eine Brücke zwischen Denken und Sein. Zwischen Wissenschaft und Mystik und zwischen Argumentation und Stille. Er gibt Worte für etwas, das sich oft nur ahnungsvoll zeigt – in Momenten tiefer Präsenz, in der Erfahrung von Weite, in der Berührung mit dem, was keine Form hat. Und genau darin liegt seine Bedeutung: Er spricht das Unsagbare aus, ohne es zu verraten.
Die Welt als Spiegel im Geist
Wenn wir erkennen, dass die Welt nicht außerhalb von uns geschieht, sondern in uns erscheint, verändert sich alles. Wir hören auf zu kämpfen. Wir hören auf, Dinge zu kontrollieren oder zu verbessern, um uns selbst zu finden. Denn der, der sucht, ist selbst nur ein Bild im Bewusstsein. Was bleibt, ist ein Raum, in dem alles sein darf – Gedanken, Schmerzen, Liebe, Leere, Erfüllung, Stille. Und aus dieser Freiheit heraus entsteht echte Klarheit, als Ausdruck einer Wahrheit, die keine Bestätigung braucht, weil sie sich selbst genügt.
Wie Kastrup sagt: „Du bist nicht in der Welt. Die Welt ist in Dir.“ Dieses Verständnis ist keine Flucht, sondern ein Erwachen. Ein Wiedersehen mit dem, was immer war – aber nie getrennt von Dir.
Wenn Dich dieser Blick auf die Realität auch so berührt, lade ich Dich ein, tiefer zu forschen. Genau hier – in Dir. Denn hier beginnt die Wahrheit, als stilles, klares Sehen. Als das, was Du bist, bevor Du etwas denkst oder sagst.
Literaturhinweise:
- Bernardo Kastrup: The Idea of the World (2019)
- Why Materialism Is Baloney (2014)
- More Than Allegory (2016)
- Webseite: www.bernardokastrup.com
- YouTube, SAND (Science and Nonduality), zahlreiche Interviews
- https://www.youtube.com/channel/UCHKZdDf09_8vVHm102fu0sg
Videos der Essentia Foundation zum Thema - https://www.essentiafoundation.org/
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.
Tausend Dank liebe Nicole! ❤️❤️❤️
Ich bin begeistert von ihm, kannte ihn noch nicht. Ihm zuzuhören ist unfassbar inspirierend, bestärkend und befreiend!
Schön, dass Du begeistert bist, liebe Hanny! Ich freu mich! LG Nicole
Liebe Nicole,
das sind unglaublich schöne Aussichten: ein Ende des Kampfes, des Kontrollieren-Wollens, der ständigen Selbstfindungsbestrebungen.
Und all das, indem ich erkenne, dass ich der Raum bin, in dem die Welt ist und in dem alles sein darf.
Wie gelingt es einem, sich der Hypnose des Außen und des sich Getrennt-Fühlens zu entziehen und es als Innen zu erkennen? Wie ist es Dir gelungen?
Noch immer erlebe ich, dass diese von Dir geschilderte Wahrnehmung in mir zwar gelegentlich in stiller Meditation auftauchen kann, doch im Lärm des Alltags mit all seinen Herausforderungen verliere ich diese Anbindung ganz schnell und ohne dass es mir überhaupt bewusst wird.
Der Verlust der Anbindung wird zur erfahrenen Realität ehe ich es mich versehe und es fällt mir erst auf, wenn ich Texte wie diesen lese oder wieder in eine tiefere Entspannung komme.
Danke für eine weitere Inspiration, die so viel Sehnsucht in mir auslöst und gleichzeitig Hoffnung macht, dass das, was ich ersehne erlebbar ist.
In Dankbarkeit und Wertschätzung,
Sabine
Liebe Sabine,
Du sprichst etwas sehr Wesentliches an – diese feine Wahrnehmung in der Stille, die im Alltag oft so leicht zu verschwinden scheint. Ich kann gut nachvollziehen, was du beschreibst.
Für mich war ein entscheidender Punkt: Wahrnehmung selbst geht nicht verloren. Sie ist immer da. Was sich bewegt, ist die Aufmerksamkeit – mal hier, mal dort. Und oft ist sie an bestimmte Sichtweisen gebunden, die wie Filter funktionieren. Die müssen erstmal gesehen werden – wirklich klar, fast überdeutlich. Erst dann können sie sich von selbst auflösen.
Erst als ich fast schon überdeutlich gesehen habe, dass z.B. Selbstverurteilung eine totale Bremse auf dem Weg zur Erfahrung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit ist, ist sie abgefallen. Allein, weil ich es überdeutlich gesehen habe. Es wurde mir dadurch einfach „klar“. Und immer, wenn etwa klar ist, fällt die Unklarheit und mit ihr Sichtweisen, die zur Unklarheit passen.
Mir haben auch Texte wie dieser geholfen. Immer und immer wieder, ich umgebe mich mit Sichtweisen, die mich anheben, die mir Energie geben, die mich nähren. Von innen und von außen. Ich liebe es. Und diese Liebe ist es, die alles „regelt“. Ich mache das, was ich liebe und lasse mich immer tiefer darauf ein. Bis ich vollkommen davon vereinnahmt bin. Da bleibt nichts mehr übrig, was nicht dazu passt. Ich gehe in Liebe auf und will nichts anderes mehr. Kein „ich sollte“, sondern „ich will“. Und aus dem „Ich will“ wird ein „Ich muss“ und daraus wird „Ich bin“. Wo Liebe ist, ist Angekommensein.
Es ist kein Fehler die Erfahrung zu machen, die Verbindung mal zu spüren, und mal nicht. Es gehört dazu. Welche Sichtweise stimmt mehr mit Dir überein, ist die ganze Frage. Und was zieht Dich wirklich, was schenkt Dir mehr von Dir selbst? Herzlich, Nicole
Liebe Nicole,
danke für Deine Antwort, die wieder richtig gutes „food for thought“ ist.
Die Wahrnehmung geht nicht verloren nur die Aufmerksamkeit springt. DAS schwingt etwas in mir an und ich lasse es mal weiter in mir „köcheln“. So differenziert hab ich es nie betrachet.
Und auch die Frage welche Sichtweise mehr mit mir übereinstimmt ist spannend, denn es gibt ja tatsächlich den Unterschied zwischen meinen mentalen Wünschen und meinen inneren Frequenzen, die ja auch von unbewussten Ausrichtungen bzw Glaubenssätzen mitbestimmt ist.
Danke für Deine wertvollen Anregungen, liebe Nicole!
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