Aufmerksamkeit - die verkaufte Kraft - anhören
Wir suchen nach Kraft, Einfluss und Kontrolle, nach Möglichkeiten, etwas zu bewirken. Aber kaum jemand erkennt, dass diese Kraft längst da ist – in jedem Moment, als das, was allem zugrunde liegt: Aufmerksamkeit.
Aufmerksamkeit ist das Erste, was geschieht, wenn etwas in unser Erleben tritt. Sie ist das, was einen Gedanken zum Leben erweckt, eine Erinnerung wachruft oder ein Gefühl spürbar macht. Was wir nicht beachten, existiert in unserem Erleben nicht und das, was wir beachten, das wächst und wird zu unserer Realität.
Das, was wir nicht beachten kann da sein, aber ohne unsere Aufmerksamkeit ist es wie ein Bild in einem dunklen Raum – unsichtbar und unwirksam.
Diese schlichte Wahrheit wird kaum wahrgenommen, weil sie einfach zu selbstverständlich ist. Wir sind so sehr mit dem beschäftigt, was wir sehen, hören, denken, fühlen – dass wir vergessen, dass wir sehen, hören, denken und fühlen.
Die Aufmerksamkeit selbst – das Licht, in dem alles auftaucht, gerät aus dem Blick. Und genau darin liegt das Paradoxe: Unsere größte Kraft ist die, die wir am wenigsten bewusst nutzen.
Die Energieversorgung durch Aufmerksamkeit
Denn alles, was wir erleben, wird durch Aufmerksamkeit mit Energie versorgt. Ob eine Geschichte in Deinem Kopf weiterläuft, ob ein Gefühl sich ausweitet oder verklingt, ob Du Dich sicher fühlst oder unruhig, hängt wesentlich davon ab, worauf Deine Aufmerksamkeit gerade ruht.
Sie ist wie eine Taschenlampe in einem dunklen Raum. Wohin Du sie richtest, das wird sichtbar, das wird „Dein Erleben“. Aber wer die Lampe nicht selbst in der Hand hält, lebt in einem Strom von Bildern, der ihn mitzieht.
Wir erleben dann nicht die Welt, sondern den unbewussten Verlauf unserer inneren Bewegungen , die dadurch fremdbestimmt und zerstreut sind.
Das Konkurrieren um Deine Aufmerksamkeit
Genau das aber, ist im Verlauf der letzten Jahre durch die rasante Entwicklung der Technologie und Social Media, der Normalzustand geworden und zwar nicht nur individuell, sondern kollektiv. Wir leben in einer Gesellschaft, die permanent um unsere Aufmerksamkeit konkurriert. Das Perfide daran ist, das subtile Versprechen, dass wir davon profitieren würden, doch in Wahrheit braucht sie unsere Energie, um sich aufrecht zu erhalten. Denn Aufmerksamkeit ist Energie – reine, unmittelbare Lebenskraft. Was sie berührt, wächst. Was sie meidet, verdorrt.
Sie wissen mehr über Dich, als Du selbst
Plattformen wie Instagram, TikTok, YouTube sind nicht „böse“, aber sie sind gebaut, um unsere Aufmerksamkeit möglichst lange zu binden. Sie sind nicht dafür gemacht, dass Du irgendwann satt bist. Sie sind dafür gemacht, dass Du dranbleibst, weiterklickst und Dich verlierst. Ich hab selbst oft genug erlebt, wie schnell die Zeit vergeht, wenn ich mich darin verliere, ohne zu merken, dass ich einfach nur konsumiere, ohne echten, bleibenden Gewinn daraus zu ziehen.
Die Algorithmen, die dort im Hintergrund arbeiten, wissen mehr über unsere Verhaltensmuster als wir selbst. Sie erkennen, was uns triggert, worauf wir reagieren, was uns hält und sie lenken unsere Aufmerksamkeit so geschickt, dass wir glauben, selbst zu wählen. Dabei ist unsere Wachheit längst unterwandert.
Was dabei geschieht, ist nicht bloß ein Zeitverlust, es ist ein Kraftverlust.
Ein Verlust von Selbstkontakt. Denn wer nicht weiß, worauf seine Aufmerksamkeit ruht, verliert sich im Inhalt – statt sich als das Gewahrsein zu erkennen, in dem all das geschieht.
Der Preis ist zu hoch
Man könnte sagen: Wir haben unsere Aufmerksamkeit verkauft und zwar für simple Zerstreuung und noch nicht mal für Geld. Eher für das Gefühl unterhalten zu werden, für den Moment, in dem wir nicht spüren müssen, was gerade da ist. Aufmerksamkeit ist nämlich auch unbequem. Wenn sie wirklich klar wird, zeigt sie uns, was wir nicht sehen wollen.
Sie bringt Gefühle an die Oberfläche, Gedanken, alte Muster. Und deshalb ist es verständlich, dass wir sie lieber ablenken, wegführen, dämpfen. Aber das hat seinen Preis. Denn mit der Flucht vor dem Unangenehmen verlieren wir auch den Zugang zum Wesentlichen, zur Tiefe, die echte Freude bringt und zur inneren Stille.
Dabei ist Aufmerksamkeit nichts, was wir machen müssen.
Sie ist schon da. Die Frage ist nur: Richtet sie sich selbst – oder wird
sie gelenkt?
Das Bemerken ist der Wendepunkt
Und genau hier liegt der Unterschied: Wir können Aufmerksamkeit nicht „kontrollieren“, im Sinne eines festen Willensakts. Aber wir können merken, wo sie gerade ist. Wir können bemerken, dass wir wieder verloren sind im Scrollen.Dass wir schon zehn Minuten innerlich diskutieren. Dass wir einer Erinnerung nachhängen oder uns mit einem Gedanken identifizieren.
Dieses Bemerken ist der eigentliche Wendepunkt. Denn in dem Moment, in dem wir merken, dass die Aufmerksamkeit gerade gebunden ist, entsteht ein neuer Raum, der nicht dadurch zustande kommt, weil wir etwas verändern müssen, sondern weil wir wieder bewusst da sind.
Dieses „Mitbekommen“ ist wie ein subtiles inneres Zurücktreten.
Es ist der Moment, in dem nicht der Inhalt unseres Erlebens dominiert, sondern das Erleben selbst bewusst wird. Und das verändert alles. Das alles geschieht nicht sofort oder über Nacht, aber es geschieht mit stiller Konsequenz.
Die Liebe zur Freiheit ist der Schlüssel
Es braucht die Liebe zur Freiheit, die uns innerlich ausrichtet und sich immer wieder daran erinnert: Ich bin nicht das, worauf ich schaue. Ich bin das, was schaut.
Und aus dieser Perspektive wird klar, dass es nicht darum geht, besser, disziplinierter oder effizienter mit der Aufmerksamkeit umzugehen. Es geht vielmehr darum, sie wieder als das zu erkennen, was sie ist: Ein Ausdruck des Bewusstseins selbst.
Aufmerksamkeit ist eine schöpferische Bewegung, eine stille Entscheidung in jedem Moment. Wenn wir dieser Bewegung Raum geben – wenn wir ihr wieder folgen, weil wir spüren, dass sie frei macht – dann verändert sich unser Leben nicht nur in der Tiefe.
Es wird wahrhaftig und unmittelbar und auf eine fast paradoxe Weise ganz einfach.
Denn plötzlich merken wir, dass es gar nicht so viel braucht. Es braucht kein großes Konzept, kein Retreat, Seminar und auch keine Methode.
Sondern nur diesen einen Schritt: Zu sehen, wo die Aufmerksamkeit gerade liegt. Und zu wissen: Das bin nicht ich. Ich bin das, was es bemerkt.
Und in dieser Klarheit beginnt der Rückweg oder besser gesagt: Das Ankommen. Denn erst wenn wir wissen, wer wir sind, können wir auch zu uns zurückfinden.
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.
Liebe Nicole, Danke bereits für die einleitenden Gedanken zu diesem klaren blogbeitrag. Ich habe mich gefragt, hat Deine Sprache an Einfachheit gewonnen, (schon die letzten Beiträge) oder sind sie in mir auf einen fruchtbaren Boden gerutscht? Egal, … wenn beim Lesen der Feuchtigkeitsdruck in den Augen zunimmt und das Herz JAAAAA, ruft, dann ist es pure Berührung. Danke.
Du schreibst, Aufmerksamkeit sei kein Willensakt. In der Meditation habe ich lange geübt, jede Form von Ablenkung wahrzunehmen, ihnen keine Bedeutung beizumessen und z.B. immer wieder auf den Atem zurückzukommen. Das hilft mir, wie einem Welpen, der von links nach rechts einem Schmetterling nachjagt, und um „meine???/die“ Aufmerksamkeit buhlt, die Kraft zu entziehen. ok, ja, es hat etwas mit Kraftanstrengung zu tun. Mir hat es lange geholfen, den starken destruktiven Gedankeninhalten die Kraft zu nehmen, mein Nervensystem zu beruhigen.
Verstehe ich es Jetzt richtig, dass es die Kunst ist, in diesem Gewahrsein anwesend zu sein, wo Alles, was im Licht der Taschenlampe auftaucht, auftaucht, ohne einen Akt der willentlichen Führung, und nur Mitbekommen der inhaltlichen Bewegungen, ohne darauf reaktiv zu sein? Wie die Bilder in einem Diaprojektor ein Urlaubsfoto zeigen, und es einfach auftaucht, ohne dieses „Oh war das schön, …wann war das, …ich buche gleich usw.? Ist das mit dem „Zurücktreten“ gemeint, wie Du es schreibst? „Das Erleben selbst bewusst wird“??? ok, da fehlt es mir an Erfahrung. Spannend, wenn das so geht. JA, wer bin ich … Liebste Grüße, Beatrice
Liebe Beatrice, Du schreibst: „In der Meditation habe ich lange geübt, jede Form von Ablenkung wahrzunehmen, ihnen keine Bedeutung beizumessen und z.B. immer wieder auf den Atem zurückzukommen. “ Die Perspektive aus der Du das beschreibst schaut auf das, was auftaucht – die Ablenkungen. Der Atem, auf den Du zurückkommst, ist auch etwas, das auftaucht, es ist also nicht das, was immer da ist. Die Kunst ist das zu identifizieren, was immer da ist und dort zu bleiben. Sich nicht auf die Gedanken usw. zu konzentrieren, die dürfen ja ruhig da sein, sondern da zu bleiben, wo Du sowieso immer bist. Es nur nicht mitbekommst, weil Du Dich ablenken lässt.
Das geht am besten, wenn man zuerst herausfindet, was immer da ist, denn dann hat man einen Referenzpunkt. Frag Dich, wen Du meinst, wenn Du „Ich“ sagst. Finde an den Punkt, an dem es nicht weiter geht. An dem Du keine Ahnung mehr hast, was Du darauf antworten sollst. Dann bist Du da. Und dort bleibst Du. In der Definitionslosigkeit. Einfach nur „da“ :-). LG Nicole
Liebe Nicole, „dort“ zu bleiben, wie Du es in Deiner Antwort auf den Beitrag von Beatrice beschreibst, hört sich wirklich sehr stimmig an, in diesem „dort“ möchte vermutlich jeder
gerne sein und bleiben. Möglicherweise ist dieses Erleben nicht für jeden von uns vorgesehen. Ich erinnere mich an die Worte von Karl Renz, auch er, verwechselt sich
täglich mit dem kleinen Karl, dem Wicht, der alles wichtig nimmt, wie er häufiger sagt. Dann kommt die Erinnerung, und plötzlich ist sie wieder weg. Es erscheint mir wie eine ewige
Verwechslungskomödie, in der natürlich alles sein kann, so wie es eben derjenige gerade erlebt. Der Hinweis von Dir, was Aufmerksamkeit bedeutet, ihre Kraft, ist sehr hilfreich, danke Dir.
Weißt Du Nina, wenn ich eines auf meinem langen und oft schwankenden Weg gelernt habe, dann ist es – nur in mir selbst – in diesem
unergründlichen Mysterium – danach zu lauschen, was möglich ist und was nicht. Ob jemand sich noch verwechselt oder nicht,
das hat nichts mit der Wahrheit zu tun, die hier ist. Und die ist überall gleich. Ob bei „mir“ oder bei „Dir“. 🙂 LG Nicole
Danke für Deine Antwort, diese hat etwas tröstliches und motivierendes zugleich. Ich vermute Du schaust/lauschst immer weiter und tiefer, wo andere aufhören/aufgeben.
LG Nina