Kein Platz und doch überall zu Hause - anhören
Mich konnte man noch nie irgendwo einordnen. Wer Eltern aus zwei verschiedenen Nationen hat, kennt das: Man ist weder im einen noch im anderen Land wirklich verwurzelt und zu Hause. Eine gespaltene Identität von Anfang an – und so sehen einen auch die Menschen.
In Deutschland war ich immer die Bulgarin, in Bulgarien die Deutsche. Ich gehörte nirgendwohin. Natürlich litt ich als Kind darunter. Doch irgendwann bemerkte ich die Vorteile, wenn man zwei Welten in der Tiefe versteht. Wenn man in die Mentalität beider Nationen eintauchen und zwischen ihnen wandern kann – selbst aber keiner von beiden angehört.
Das Gespür für das „Dazwischen“
Später verstand ich, dass es sogar eine Hilfe war, nicht in einer festen Identität verhaftet zu sein. Es schärfte mein Gespür für das Undefinierte, für das „Dazwischen“ – zwischen Gedanken, zwischen Atemzügen, zwischen Nationen, Menschen, Ereignissen.
Da ist immer ein Leerraum, der nicht definiert ist. Ein Niemandsland, das wie ein Übergang wirkt – vom Einen zum Anderen. Ein Raum, in dem scheinbar kein Leben stattfindet, weil er nur eine Brücke, ein Übertritt zu sein scheint.
Noch später verstand ich: Genau dieser Zwischenraum ist ein Portal – in eine Leere, die sich als die Wirklichkeit hinter allen Welten zeigt. Nicht einordenbar zu sein ist interessant. Man nimmt automatisch die Position der Beobachterin ein und sieht, wie sehr Menschen Gruppen brauchen.
Ich gehöre keiner Szene an – und empfinde das als gesund. Besonders spirituelle Gemeinschaften entwickeln schnell ihre eigene Sprache, ihre Codes, ihre geschlossenen Systeme. Das Wesentliche geht dabei verloren: Die Einheit wird im Außen gesucht und scheinbar gefunden – und so wird übersehen, dass das, was wir Einheit nennen, tief in jedem Menschen verankert ist. Auch ohne jede Gemeinschaft im Außen.
Oft ist spirituelle Gruppenbildung ein Ersatz für den Fall in echte Tiefe – im Grunde eine Vermeidung. Keine Gruppe bietet die Beständigkeit, die sich einstellt, wenn ein Mensch zu seiner wahren Identität vorgedrungen ist. Gruppendynamiken verändern sich ständig. Die wahre Identität eines Menschen jedoch verändert sich nie.
In Gemeinschaft und doch allein
In den Online-Gruppen, die ich bisher geleitet habe, war mir das Wichtigste: in Gemeinschaft zu sein und doch allein zu bleiben. Niemand ließ sich einordnen, niemand passte sich an – denn es ging nicht um Anpassung. Die einzige Anpassung, die zählte, war die an den Sog in die eigene Tiefe.
Wir müssen zunächst hochindividuell werden. (individuell = lat. ungeteilt) So persönlich, dass nur noch eines existiert und kein Zweites darin. Ich lasse mich auf mich ein, ohne zu wissen, was ich mit „mich“ meine. Ich folge nur dem Gefühl in mir – dem tiefsten Alleinsein, das bitte nicht mit Einsamkeit zu verwechseln ist.
Die Außenwelt bleibt aus dem Persönlichen ausgeschlossen. Ich besinne mich so tief auf mich, dass ich ohne jedes Publikum in mir selbst verbleibe.
Wenn Persönliches und Unpersönliches eins werden
An diesem Ort der persönlichsten Tiefe wird klar: Das Persönliche und das Unpersönliche sind eins. Wenn ich als das absolut Ungeteilte verbleibe, öffnet es sich wie eine Blüte in der Sonne und offenbart sich dem Licht.
Die persönliche Unabhängigkeit von den Meinungen anderer Menschen fällt den meisten am schwersten. Wir wurden darauf konditioniert, die Gemeinschaft zu suchen und uns anzupassen, um zu überleben. Das innere Alleinsein zu suchen, wirkt wie das Gegenteil davon – und macht Angst.
Der natürliche Weg des Außenseiters
Außenseitern wie mir fällt dieser Weg offenbar leichter, weil die Erfahrung des Alleinseins schon immer da war. Zunächst als erlittenes Getrenntsein von einer Gemeinschaft. Dann als gewollter Fall in den eigenen Abgrund, der sich als Sprung in die größte Sicherheit entpuppt, die ein Mensch spüren kann: die Erlösung in ein undefinierbares, unbegrenztes, ewiges, ungeteiltes Sein. Es ist die Auflösung einer Perspektive, die sich als Kurzsichtigkeit entpuppt – als ein Knick in der Optik.
Mein Leben lang fühlte ich mich als Nicole, gefesselt an Gedanken von Unvollkommenheit, Fehlerhaftigkeit, Ungenügen. Ein Mensch, der darum kämpfte, sich besser zu fühlen, als er es tat. Ich wollte das Leiden lindern – durch bessere Gefühle – und hoffte, dass diese Gefühle irgendwann bleiben würden.
Erst als ich mich von allem zurückzog – von allen Weltbildern, von allen Meinungen anderer, von allen Vorstellungen über mich, von meinen eigenen Gedanken und Gefühlen –, wurde klar: Alles erscheint in mir.
Ich bin der Ursprung dieser Weltbilder, dieser Gedanken, dieser Gefühle, dieser Szenarien, Situationen, Umstände und Ereignisse, die ich als mein Leben erlebe.
Jenseits von Gedanken und Gefühlen
Was liegt jenseits der Gedanken, Gefühle, Bilder, Bezeichnungen? Was bleibt, wenn all das abfällt? Den Weg zu dieser Antwort kann nur jeder für sich selbst gehen. Man findet ihn nicht im Ungefähren, nicht im Allgemeinen – man findet ihn im Eindeutigen.
Wenn man niemand anderem mehr folgt, erkennt man, dass es keinen anderen gibt. Es gibt nur dieses eine Sein, das sich in allen Farbnuancen erfährt, ohne sich jemals von sich selbst getrennt zu haben.
Die wahre Gemeinschaft
Wir müssen keine Gemeinschaft bilden, um eins zu sein. Auf der tiefsten Ebene des Daseins sind wir bereits Gemeinschaft – verbunden durch denselben Ursprung. Näher zusammenrücken kann man nicht.
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Im September starte ich eine neue Onlinegruppe. Wenn Du erleben willst, was es heißt in gemeinsamer Selbsterforschung zu sein und doch den Weg allein zu gehen, dann sind hier Deine Infos: https://nicolepaskow.de/wort-und-raum-gruppe-online/
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.
VOLLTREFFER!
… bei mir sind es drei Räume: Slowenien-Italien-Deutschland
Und ich hab‘ immer schon Zugehörigkeitsschwierigkeiten, das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen und mich nicht entscheiden zu können (bin ich alles? oder nichts davon? oder eines mehr?) … später zu wollen … und noch gar nicht so lange her, habe ich begriffen, dass es die Chance ist, genau dort genau MEINEN Platz zu kreieren. Damit bin ich nun seit einigen Jahren beschäftigt. Herauszufinden, wie das geht, was es bedeutet, wie das sein sollwilldarf. Meine aktuelle Phase heißt Ent-Heimatung:
Ent-Heimatung
Erst auf dem Boden
tiefster Verbindungs-
Erfahrung
kann Ent-Heimatung
(aus)gehalten
(er)tragen
werden
um dann
ganz neu
rückverbunden
Heimat zu finden
IN mir.
(Anm.: diese Verbindungs-Erfahrung wurde mir vergangenes Jahr in einer sehr besonderen Begegnung geschenkt)
Liebe Valentina,
„Ent-Heimatung“ als Prozess zu benennen, finde ich stark – und dass er getragen ist von einer Erfahrung tiefer Verbindung, macht ihn spürbar.
Der Raum zwischen den Zugehörigkeiten ist nicht einfach. Aber ja – genau da kann etwas Eigenes entstehen. Ich wünsche Dir weiter gutes Forschen und Finden.
Herzlich,
Nicole
Liebe Nicole, dein heutiger Beitrag, hat mich besonders abgeholt. Ich habe mich in Gemeinschaften nie wirklich zu Hause gefühlt, obwohl ich zu einigen „dazugehört“ habe. Am wohlsten fühle ich mich oft auf der Reise und gleichzeitig ist die schönste Fahrt immer wieder die zu meinem Zufluchtsort, der sich auf meinem ehemals elterlichen Stück Land befindet. Mein Ankommen währt allenorts immer nur kurz und ich lerne gerade das dazwischen sein zu schätzen…
…eigentlich wollte ich dir nur ein grandios zurufen. Das schien mir aber nicht genug…
Alles Liebe
Frankie
Lieber Frankie,
Das „Dazwischen-Sein“ – nicht ganz angekommen, nicht ganz unterwegs – hat etwas Eigenes, oder? Vielleicht ist es genau dieser Raum, in dem wir am ehrlichsten mit uns sind.
Und vielleicht ist das auch das wahre Zuhause: Nicht Ort, nicht Gruppe, sondern dieses stille Empfinden von Stimmigkeit, das manchmal einfach da ist – beim Ankommen, beim Weiterziehen, oder mitten im Nichts.
Danke für Deine Worte. Alles Liebe zurück!
Nicole
Liebe Nicole,
ich kenne das Gefühl Außenseiterin zu sein auch sehr gut, nicht wegen meiner Abstammung, sondern einfach weil ich irgendwie anders war/bin, immer schon ein Problem mit Gruppenzwängen hatte und es mir sehr schwer fällt, mich anzupassen, wenn ich das als unauthentisch empfinde.
Dennoch blieb immer die Sehnsucht danach eines Tages einer Gemeinschaft zu begegnen, die sich einfach stimmig für mich anfühlt, wo ich mich nicht verbiegen muss und so wie ich bin willkommen bin.
Ich stimme Dir zu, dass Außenseiterdasein feinere Beobachtungsfähigkeit hervorbringt, was in manchen Situtionen seine Vorzüge hat.
Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es sehr hilfreich ist, als geschätzter Teil einer Gemeinschaft die Seiten in sich widergespiegelt zu bekommen, die man ansonsten manchmal gar nicht richtig wahrnimmt, die dann als blinde Flecken weiter ihr „Unwesen“ treiben oder einen daran hindern sein eigenes Potential wirklich wahrzunehmen.
Es ist wie mit allem anderen auch, es gibt immer verschiedene Sichtweisen und jede Herausforderung ist auch eine Möglichkeit, tiefere Erkenntnis zu gewinnen.
Trotzdem wäre ich froh, wenn es auch mal für eine zeitlang Pause von den Herausforderungen gäbe… 😉
Danke für Dein Teilen und Hut ab, dass Du an Deinen Herausforderungen so zu Dir selbst hingewachsen bist!
Sabine
Liebe Sabine,
ich kann vieles von Deiner Nachricht gut nachvollziehen. Besonders die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, in der man sich nicht verbiegen muss – das kenne ich auch. Und ja, es ist ein Geschenk, wenn man sich wirklich gespiegelt fühlt, ohne sich dabei fremd zu werden.
Ich stimme Dir zu: In Kontakt mit anderen zeigen sich oft genau die Anteile, die wir allein nicht sehen. Und gleichzeitig braucht es – zumindest für mich – diesen inneren Ort, an dem ich ganz ohne Spiegel klar sehe. Sonst verwechsel ich leicht das Feedback der anderen mit der Wahrheit über mich.
Die Herausforderung ist wohl, beides zu halten: Verbunden zu sein, ohne sich zu verlieren – und allein stehen zu können, ohne sich zu isolieren. Kein einfacher Tanz. Und manchmal, ja – eine Pause wäre auch schön. 😄
Danke für Dein aufrichtiges Teilen. Es freut mich sehr, dass Du hier bist.
Herzlich,
Nicole
Deine Liebesbriefchen bringen allemal frischen Wind in die Bude d i r e k t von zuhause. Love it!
‚Die wahre Gemeinschaft‘, die befreite Anwesenheit im Verbunden Sein ist für mich das höchste der Gefühle 😀
Das freut mich, liebe Maja! 🙂 LG Nicole