Wenn ich die Schriften von Meister Eckhart lese*, fühle ich mich in einer Tiefe angesprochen, die schwer in Worte zu fassen ist. Seine Sprache ist alt, getragen von den Jahrhunderten, und doch wirkt sie so frisch, als sei sie heute geschrieben. Er berührt etwas, das sich jenseits von Zeit und Begriffen befindet. Und genau das fasziniert mich: Mitten im Mittelalter, in einer Welt voller Dogmen und äußerer Frömmigkeit, spricht er von einer Freiheit, die ich in meiner eigenen Erfahrung wiedererkenne. Eine Freiheit, die nur dann sichtbar wird, wenn das Ich durchlässig wird.

Das Ich begleitet uns wie ein ständiger innerer Kommentator, der nicht müde wird, Besitzansprüche zu erheben. „Ich habe das erlebt. Ich will jenes erreichen. Ich fühle dies und jenes.“ Es spricht ununterbrochen, als wäre es das Zentrum unseres Daseins. Aber sobald ich innehaltend hinschaue, erkenne ich, wie flüchtig es ist. Heute zeigt es sich als stolz, morgen als verletzlich, übermorgen als planend und berechnend. Es ist wie ein Schauspieler, der mit wechselnden Kostümen auf die Bühne tritt und jedes Mal behauptet: „Das bin ich.“ Doch sobald der Vorhang fällt, bleibt nichts als Stille.

Eckhart beschreibt das Ich nicht als Feind, sondern als Hülle. Eine dünne Schicht, die sich lösen kann, wenn wir tiefer blicken. Er benutzt das Bild des Spiegels: Ein Spiegel nimmt nichts an, er hält nichts fest. Er zeigt, was erscheint, aber er bleibt frei von dem, was er abbildet. Ein Spiegel trägt kein Gewicht, und doch macht er sichtbar, was vor ihm steht. Das Ich, so wie ich es erkenne, ist in diesem Sinn ein durchlässiger Spiegel. Es besitzt keine eigene Substanz, es lebt nur davon, dass es Erfahrungen spiegelt und sie für sein Eigen erklärt.

Das Echo des Ichs

In meiner eigenen Wahrnehmung ist es genau das: Das Ich taucht auf wie ein Echo. Es beansprucht die Worte, die Taten, die Gefühle – und sagt: „Das bin ich.“ Doch wenn ich still werde, sehe ich, dass dieses Echo keinen eigenen Klang trägt. Es lebt nur vom Ruf, der ihm vorausgeht. Das, was vorausgeht, ist das Bewusstsein selbst, dieser Seelengrund, von dem Eckhart spricht. In ihm ist keine Trennung, kein Besitzer, kein getrenntes Zentrum.

Ich erinnere mich an Augenblicke, in denen das Ich ganz still wurde. Es waren keine großen, ekstatischen Erfahrungen, sondern Momente der Schlichtheit: ein Lachen mit meiner Tochter, ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster fällt, ein tiefes Versinken in Musik. Plötzlich gibt es kein „Ich, das erlebt“ mehr. Es bleibt nur das Erleben selbst. Und wenn das Ich dann zurückkehrt, will es sofort ein Etikett anbringen: „Ich war glücklich. Ich habe Frieden gespürt.“ Doch das Eigentliche liegt jenseits dieser Zuschreibung.

In diesen Augenblicken erkenne ich, wie leicht das Leben sein kann, wenn nichts festgehalten wird. Freude erscheint, Trauer erscheint, Gedanken und Bilder kommen und gehen. Der Spiegel zeigt sie, und sie verschwinden wieder, ohne Spuren zu hinterlassen. Was bleibt, ist die Stille, die immer schon da war. Sie braucht keinen Namen, keine Bestätigung, keine Anerkennung. Sie ist.

Eckharts radikale Schlichtheit

Meister Eckhart berührt mich, weil er genau diese Einfachheit beschreibt – und das in einer Zeit, in der die meisten Wege zu Gott über Regeln, Rituale und Gehorsam führten. Er spricht dagegen von einem Gott, der sich dort zeigt, wo das Ich loslässt, wo das Geschöpf nicht mehr Besitz ergreift. Das ist nicht nur mutig, es ist revolutionär. Er ruft dazu auf, über das eigene Selbst hinauszugehen, und darin erkenne ich den Kern auch der nondualen Sicht: Dass das persönliche Ich nie der Ursprung war, sondern nur ein Ausdruck, ein Durchgang, ein Spiegel.

Je länger ich dies betrachte, desto klarer wird mir: Das Ich ist nicht falsch, es ist nur fehlinterpretiert. Es ist ein Gast, kein Hausherr. Es darf erscheinen, es darf gehen, doch es besitzt nichts. Das Eigentliche, das Unverrückbare, liegt im Hintergrund. Und dieser Hintergrund ist nicht wirklich ein „Hintergrund“, er ist das Ganze selbst. Er ist das, was Gott in Eckharts Sprache ist, und was ich heute einfach Bewusstsein nenne.

Das zu sehen, verändert die Beziehung zum Leben. Wenn nichts mehr Besitz ist, muss ich auch nichts mehr festhalten. Freude darf kommen und gehen, ohne dass ich sie zur Identität mache. Schmerz darf durchziehen, ohne dass er mich definiert. Das Leben entfaltet sich, und der Spiegel zeigt es, klar und unverfälscht. Und je durchlässiger das Ich wird, desto mehr spüre ich: Es gibt keine wirkliche Trennung. Nicht zwischen innen und außen, nicht zwischen Dir und mir, nicht zwischen Mensch und Gott.

Der Spiegel als Tor zur Einheit

Das Ich ist vielleicht wirklich nur ein Spiegel – und je durchsichtiger es wird, desto deutlicher zeigt sich, dass es nie ein Getrenntsein gab. Alles ist Ausdruck desselben Seelengrundes. Alles ist eins, auch wenn es sich in tausend Formen zeigt.

Meister Eckhart hat es in einer Sprache gesagt, die nichts an Kraft verloren hat:
„Dort, wo das Geschöpf aufhört, dort beginnt Gottes Wesen. Alles, was Gott von dir in dringlichster Weise verlangt, ist, aus dir hinauszugehen, wo du Geschöpf bist, und Gott in dir Gott sein zu lassen.“

 

*Literaturbeispiele

  • „Von Abgeschiedenheit“ – Eckharts klarste Formulierung des Loslassens
    des Ich.

  • „Rede der Unterweisung“ – sehr direkt und fast schon wie kleine spirituelle Übungen.

  • Predigt 2 („Selig sind die Armen im Geiste“) – der klassische Einstieg in Eckharts Denken.

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