Die Welt als Traum im Bewusstsein- anhören

von Nicole Paskow

Bernardo Kastrup ist eine der interessantesten Stimmen der Gegenwart, wenn es darum geht, unser Verständnis von Realität, Bewusstsein und Welt grundlegend zu hinterfragen. Er ist promovierter Informatiker, Philosoph, ehemaliger CERN-Forscher – und zugleich jemand, der mit analytischer Präzision eine spirituelle Wahrheit verteidigt, die viele Menschen intuitiv spüren, aber kaum rational fassen können: Alles, was wir erleben, geschieht im Bewusstsein. Nicht Bewusstsein ist in der Welt, sondern die Welt ist im Bewusstsein. Diese Umkehrung stellt die gängigen Annahmen über Wirklichkeit auf den Kopf – und macht zugleich tiefen Sinn, wenn man sie zu Ende denkt.

Kastrup gehört zu den prominentesten Vertretern des metaphysischen Idealismus. Diese philosophische Richtung besagt, dass Bewusstsein die grundlegende Substanz der Realität ist, nicht Materie. Alles, was wir erfahren – Körper, Objekte, Gedanken, Emotionen, selbst Raum und Zeit – sind Erscheinungen in diesem Bewusstsein. Es gibt keine Welt „da draußen“, unabhängig von Erleben. Oder wie Kastrup es in seinem Buch The Idea of the World ausdrückt: „Nicht das Gehirn erzeugt Bewusstsein – das Gehirn erscheint im Bewusstsein.“

Die Metapher des Traums

Um seine Sichtweise verständlich zu machen, verwendet Kastrup oft die Metapher des Traumes. Wenn wir träumen, erleben wir Menschen, Räume, Handlung – alles scheint real. Und doch geschieht alles in unserem Bewusstsein. Es gibt in diesem Moment keine „Außenwelt“. Genauso, sagt er, ist es auch im Wachzustand: Der Unterschied ist nicht ontologischer, sondern lediglich kohärenzbezogener Natur.

Der Wachzustand ist konsistenter, beständiger – aber nicht „realer“. „Die Welt ist der Traum des einen Geistes – ein kohärenter, beständiger Traum, den wir Realität nennen“, schreibt er in Why Materialism is Baloney. Diese Sichtweise hat nichts mit Flucht aus der Realität zu tun, sondern mit einem tieferen Verständnis dessen, was Realität überhaupt ist. Denn wenn alles nur im Bewusstsein erscheint, dann ist das, was wir für „objektiv“ halten, in Wahrheit die geteilte innere Erfahrung eines universellen Geistes, der sich in unzähligen Formen ausdrückt.

Individuen als lokale Perspektiven

In diesem Modell sind wir nicht voneinander getrennt, sondern lokalisierte Perspektiven innerhalb desselben Bewusstseins. Unsere Körper, unsere Gehirne, unsere Gedanken sind Erscheinungen im Strom eines universellen Geistes. Der Eindruck von Getrenntheit entsteht durch das, was Kastrup „lokale Dissoziation“ nennt: Ein Vorgang, durch den das eine Bewusstsein vorübergehend so wirkt, als sei es in viele Einzelne aufgespalten.

Aber in Wahrheit bleibt es immer eins. Wenn wir sterben, so Kastrup, endet nicht das Bewusstsein, sondern nur diese bestimmte Perspektive darauf: „Wenn Du stirbst, fällt Deine persönliche Perspektive in das universelle Bewusstsein zurück. Das ist kein Ende, sondern ein Aufgehen“, sagt er in einem Interview mit Science and Nonduality. Diese Sichtweise ist nicht nur beruhigend, sondern auch logisch konsequent – wenn man erst einmal akzeptiert, dass nicht das Gehirn Bewusstsein produziert, sondern dass das Gehirn eine symbolische Darstellung eines Bewusstseinsprozesses ist.

Bewusstsein ist nicht lokal – es ist fundamental

Eines der stärksten Argumente gegen den Materialismus ist für Kastrup, dass sich Bewusstsein nicht lokalisieren lässt. Es gibt kein Zentrum im Gehirn, aus dem das „Ich“ kommt. Vielmehr scheint das Gehirn eher wie ein Filter zu funktionieren, der die unbegrenzte Weite des Bewusstseins auf eine individuelle Perspektive reduziert.

Damit steht Kastrup in einer Linie mit vielen mystischen und spirituellen Traditionen – von Advaita Vedanta über Plotin bis zu Meister Eckhart. Doch er nähert sich diesem Verständnis nicht aus einem Glaubensimpuls heraus, sondern mit philosophischer Strenge, analytischer Klarheit und einem tiefen Vertrauen in die Kraft des Denkens jenseits materialistischer Dogmen.

Eine spirituelle Philosophie – ohne Esoterik

Obwohl seine Sprache rational bleibt, ist Kastrups Philosophie tief spirituell. Denn sie führt uns in eine Erkenntnis, die mystische Schulen aller Zeiten immer wieder beschrieben haben: Dass alles eins ist, dass Getrenntheit eine Illusion ist, und dass die Quelle unseres Seins nicht im Persönlichen liegt, sondern im Unpersönlichen, dem einen Bewusstsein, das sich selbst in Form der Welt träumt.

„Spiritualität beginnt dort, wo die Trennung endet. Wenn wir erkennen, dass alles im Bewusstsein geschieht, verschwindet die Illusion von Getrenntheit“, schreibt er in More Than Allegory. Für mich persönlich ist diese Aussage zentral. Denn auch in meiner eigenen Arbeit – im Schreiben, im Coaching, im inneren Forschen – dreht sich alles letztlich um genau dieses Wiedererkennen: Dass wir nicht das sind, was wir erleben – sondern das, in dem alles Erleben geschieht. Dass wir nicht Subjekte sind, die eine Welt sehen – sondern dass das, was wir „Welt“ nennen, in uns erscheint. Nicht in einem Ich, sondern im offenen, grenzenlosen Raum des Seins.

Mein Zugang: Tiefer als jedes Ich

Was Kastrup formuliert, entspricht meiner eigenen inneren Erfahrung: Ich bin nicht Nicole. Ich bin nicht mein Körper. Nicht meine Gedanken. Nicht meine Geschichte. Ich bin auch nicht „mein“ Bewusstsein. Ich bin das Bewusstsein selbst, das weder mir gehört noch lokalisiert ist. Alles, was ich wahrnehme, alles, was ich denke, fürchte, wünsche – erscheint in mir. In einem Raum, der keine Begrenzung kennt.

Wenn ich über Bewusstsein schreibe oder Menschen begleite, dann geschieht das aus genau dieser Perspektive heraus. Als lebendige Wahrheit, die sich in jedem Moment neu zeigt.

Kastrups Theorie ist für mich deshalb nicht nur ein philosophisches Modell, sondern eine Brücke zwischen Denken und Sein. Zwischen Wissenschaft und Mystik und zwischen Argumentation und Stille. Er gibt Worte für etwas, das sich oft nur ahnungsvoll zeigt – in Momenten tiefer Präsenz, in der Erfahrung von Weite, in der Berührung mit dem, was keine Form hat. Und genau darin liegt seine Bedeutung: Er spricht das Unsagbare aus, ohne es zu verraten.

Die Welt als Spiegel im Geist

Wenn wir erkennen, dass die Welt nicht außerhalb von uns geschieht, sondern in uns erscheint, verändert sich alles. Wir hören auf zu kämpfen. Wir hören auf, Dinge zu kontrollieren oder zu verbessern, um uns selbst zu finden. Denn der, der sucht, ist selbst nur ein Bild im Bewusstsein. Was bleibt, ist ein Raum, in dem alles sein darf – Gedanken, Schmerzen, Liebe, Leere, Erfüllung, Stille. Und aus dieser Freiheit heraus entsteht echte Klarheit, als Ausdruck einer Wahrheit, die keine Bestätigung braucht, weil sie sich selbst genügt.

Wie Kastrup sagt: „Du bist nicht in der Welt. Die Welt ist in Dir.“ Dieses Verständnis ist keine Flucht, sondern ein Erwachen. Ein Wiedersehen mit dem, was immer war – aber nie getrennt von Dir.

Wenn Dich dieser Blick auf die Realität auch so berührt, lade ich Dich ein, tiefer zu forschen. Genau hier – in Dir. Denn hier beginnt die Wahrheit, als stilles, klares Sehen. Als das, was Du bist, bevor Du etwas denkst oder sagst.

Literaturhinweise:

  • Bernardo Kastrup: The Idea of the World (2019)
  • Why Materialism Is Baloney (2014)
  • More Than Allegory (2016)
  • Webseite: www.bernardokastrup.com
  • YouTube, SAND (Science and Nonduality), zahlreiche Interviews

 

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In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.

Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.