Kein Platz und doch überall zu Hause - anhören

von Nicole Paskow

Mich konnte man noch nie irgendwo einordnen. Wer Eltern aus zwei verschiedenen Nationen hat, kennt das: Man ist weder im einen noch im anderen Land wirklich verwurzelt und zu Hause. Eine gespaltene Identität von Anfang an – und so sehen einen auch die Menschen.

In Deutschland war ich immer die Bulgarin, in Bulgarien die Deutsche. Ich gehörte nirgendwohin. Natürlich litt ich als Kind darunter. Doch irgendwann bemerkte ich die Vorteile, wenn man zwei Welten in der Tiefe versteht. Wenn man in die Mentalität beider Nationen eintauchen und zwischen ihnen wandern kann – selbst aber keiner von beiden angehört.

Das Gespür für das „Dazwischen“

Später verstand ich, dass es sogar eine Hilfe war, nicht in einer festen Identität verhaftet zu sein. Es schärfte mein Gespür für das Undefinierte, für das „Dazwischen“ – zwischen Gedanken, zwischen Atemzügen, zwischen Nationen, Menschen, Ereignissen.

Da ist immer ein Leerraum, der nicht definiert ist. Ein Niemandsland, das wie ein Übergang wirkt – vom Einen zum Anderen. Ein Raum, in dem scheinbar kein Leben stattfindet, weil er nur eine Brücke, ein Übertritt zu sein scheint.

Noch später verstand ich: Genau dieser Zwischenraum ist ein Portal – in eine Leere, die sich als die Wirklichkeit hinter allen Welten zeigt. Nicht einordenbar zu sein ist interessant. Man nimmt automatisch die Position der Beobachterin ein und sieht, wie sehr Menschen Gruppen brauchen.

Ich gehöre keiner Szene an – und empfinde das als gesund. Besonders spirituelle Gemeinschaften entwickeln schnell ihre eigene Sprache, ihre Codes, ihre geschlossenen Systeme. Das Wesentliche geht dabei verloren: Die Einheit wird im Außen gesucht und scheinbar gefunden – und so wird übersehen, dass das, was wir Einheit nennen, tief in jedem Menschen verankert ist. Auch ohne jede Gemeinschaft im Außen.

Oft ist spirituelle Gruppenbildung ein Ersatz für den Fall in echte Tiefe – im Grunde eine Vermeidung. Keine Gruppe bietet die Beständigkeit, die sich einstellt, wenn ein Mensch zu seiner wahren Identität vorgedrungen ist. Gruppendynamiken verändern sich ständig. Die wahre Identität eines Menschen jedoch verändert sich nie.

In Gemeinschaft und doch allein

In den Online-Gruppen, die ich bisher geleitet habe, war mir das Wichtigste: in Gemeinschaft zu sein und doch allein zu bleiben. Niemand ließ sich einordnen, niemand passte sich an – denn es ging nicht um Anpassung. Die einzige Anpassung, die zählte, war die an den Sog in die eigene Tiefe.

Wir müssen zunächst hochindividuell werden. (individuell = lat. ungeteilt) So persönlich, dass nur noch eines existiert und kein Zweites darin. Ich lasse mich auf mich ein, ohne zu wissen, was ich mit „mich“ meine. Ich folge nur dem Gefühl in mir – dem tiefsten Alleinsein, das bitte nicht mit Einsamkeit zu verwechseln ist.

Die Außenwelt bleibt aus dem Persönlichen ausgeschlossen. Ich besinne mich so tief auf mich, dass ich ohne jedes Publikum in mir selbst verbleibe.

Wenn Persönliches und Unpersönliches eins werden

An diesem Ort der persönlichsten Tiefe wird klar: Das Persönliche und das Unpersönliche sind eins. Wenn ich als das absolut Ungeteilte verbleibe, öffnet es sich wie eine Blüte in der Sonne und offenbart sich dem Licht.

Die persönliche Unabhängigkeit von den Meinungen anderer Menschen fällt den meisten am schwersten. Wir wurden darauf konditioniert, die Gemeinschaft zu suchen und uns anzupassen, um zu überleben. Das innere Alleinsein zu suchen, wirkt wie das Gegenteil davon – und macht Angst.

Der natürliche Weg des Außenseiters

Außenseitern wie mir fällt dieser Weg offenbar leichter, weil die Erfahrung des Alleinseins schon immer da war. Zunächst als erlittenes Getrenntsein von einer Gemeinschaft. Dann als gewollter Fall in den eigenen Abgrund, der sich als Sprung in die größte Sicherheit entpuppt, die ein Mensch spüren kann: die Erlösung in ein undefinierbares, unbegrenztes, ewiges, ungeteiltes Sein. Es ist die Auflösung einer Perspektive, die sich als Kurzsichtigkeit entpuppt – als ein Knick in der Optik.

Mein Leben lang fühlte ich mich als Nicole, gefesselt an Gedanken von Unvollkommenheit, Fehlerhaftigkeit, Ungenügen. Ein Mensch, der darum kämpfte, sich besser zu fühlen, als er es tat. Ich wollte das Leiden lindern – durch bessere Gefühle – und hoffte, dass diese Gefühle irgendwann bleiben würden.

Erst als ich mich von allem zurückzog – von allen Weltbildern, von allen Meinungen anderer, von allen Vorstellungen über mich, von meinen eigenen Gedanken und Gefühlen –, wurde klar: Alles erscheint in mir.

Ich bin der Ursprung dieser Weltbilder, dieser Gedanken, dieser Gefühle, dieser Szenarien, Situationen, Umstände und Ereignisse, die ich als mein Leben erlebe.

Jenseits von Gedanken und Gefühlen

Was liegt jenseits der Gedanken, Gefühle, Bilder, Bezeichnungen? Was bleibt, wenn all das abfällt? Den Weg zu dieser Antwort kann nur jeder für sich selbst gehen. Man findet ihn nicht im Ungefähren, nicht im Allgemeinen – man findet ihn im Eindeutigen.

Wenn man niemand anderem mehr folgt, erkennt man, dass es keinen anderen gibt. Es gibt nur dieses eine Sein, das sich in allen Farbnuancen erfährt, ohne sich jemals von sich selbst getrennt zu haben.

Die wahre Gemeinschaft

Wir müssen keine Gemeinschaft bilden, um eins zu sein. Auf der tiefsten Ebene des Daseins sind wir bereits Gemeinschaft – verbunden durch denselben Ursprung. Näher zusammenrücken kann man nicht.

 

***
Im September starte ich eine neue Onlinegruppe. Wenn Du erleben willst, was es heißt in gemeinsamer Selbsterforschung zu sein und doch den Weg allein zu gehen, dann sind hier Deine Infos: https://nicolepaskow.de/wort-und-raum-gruppe-online/

 

 

 

Wenn Dich dieser Beitrag inspiriert hat, freue ich mich über eine Spende Deiner Wahl. Bitte „Schenkung“ im Verwendungszweck angeben.Danke.

Zur Buchung eines Gespräches geht es hier entlang

In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.

Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.