Urteilen und Bewerten - anhören

von Nicole Paskow

Sobald wir auf die Welt kommen, werden wir beurteilt. Ist das Baby groß und schwer genug? Bekommt es genug Luft, sieht es gut aus, ist es gesund? Hat es genug Vitamine, bekommt es genug Muttermilch? Macht es, was es soll? Bewegt sich das kleine Kind richtig? Hat es alle Impfungen?

Kann es altersgemäß erfassen, sprechen, laufen, begreifen …? Ist es zu klein, zu dick, zu dünn? Wir haben Normen und Statistiken, Empfehlungen, Ratschläge und Zwangsvorgaben, die eingehalten werden sollten und müssten, kaum, dass wir das Sonnenlicht gesehen haben.

Ich kenne keine Eltern, die nicht irgendwann mal unsicher sind, ob sich das Kind „normal“ entwickelt. Kinderkrippe, Kindergarten, Schule. Das sind die nächsten Stationen, in denen wir beurteilt, bewertet und eingeordnet werden. Wir sollen gemeinsam singen, in die Hände klatschen, Jesus malen, uns beim Spazieren an den Händen halten, nicht zu viel toben.

Was macht das alles mit uns?

In der Schule zuhören, sitzenbleiben, nicht mit dem Nachbarn sprechen und aufmerksam sein. In Schulaufgaben sollen wir alles auswendig Gelernte möglichst wortgetreu wiedergeben und werden benotet. Und so geht es weiter bis ins Grab. Ich spar mir den Rest, den kennt jeder.

Was macht das alles mit uns? Woher sollen wir denn wissen, wer wir sind, was wir wollen, was der richtige Weg für uns ist, wenn wir immer nur auf andere Menschen hören und uns von Ihnen sagen lassen, wie wir zu sein haben? Wir passen uns früh an, um nicht aus der Gemeinschaft zu fallen, wie der kleine Vogel aus dem Nest. Selbst wenn wir rebellisch sind, handelt es sich um eine Anpassung, denn Aufmerksamkeit ist das höchste Gut für ein Kind. Notfalls wird es das Katastrophenkind, wenn es dafür Aufmerksamkeit bekommt …

Das, was wir für uns selbst halten, besteht aus einem Netzwerk an Beurteilungen über uns. Die äußeren Stimmen haben wir in kürzester Zeit internalisiert und bewerten uns nun selbst. Mein Glück war eine Großmutter, die mich genug liebte, um mich in Ruhe zu lassen, so, wie ich war. Sie war der einzige Mensch, der nichts von mir wollte.

Sie wollte nichts von mir und bekam mich wie ich war

Weder wollte sie, dass ich ihr zuhöre, noch, dass ich sie liebe, noch dass ich irgendetwas für sie tue oder befolge, was sie für richtig hielt. Im Gegenteil, sie hörte mir zu, liebte mich und tat alles für mich. Sie bleibt zeitlebens für mich die Verkörperung bedingungsloser Liebe. Und ich liebte sie, ganz natürlich, aus freien Stücken, zurück.

Sie war es, die mir eine Ahnung von innerer Stille vermittelt hat. Nicht weil sie selbst konfliktfrei in sich war, (war sie nicht) aber sie war offen genug für mich und ich erfuhr durch sie, was es heißt Raum zu bekommen, um einfach nur (ohne Vorgaben) zu sein.

Ich kenne keinen Menschen, der sich nicht mit seinen Selbstbeurteilungen herumquält. Ich kenne keinen Menschen, der sich selbst in Ruhe sein lässt, wie er ist. Es ist, als ob wir mit der körperlichen Geburt, den nächsten Geburtskanal betreten, der uns wieder durch einen Wachstumsprozess schleust, doch diesmal durch einen geistigen.

Endlose (Selbst)Geburt?

Wir werden so lange auf allen Ebenen geboren, bis wir unser unverrückbares (Da)Sein entdecken. An meinen eigenen Kindern konnte und kann ich erleben, dass wir bereits als Geformte auf die Welt kommen. Es ist nicht so, dass wir wie unbeschriebene Blätter Papier erscheinen und nur die Eltern alles „versauen“. Es ist bereits eine Anlage da, auf bestimme Weise auf die Umwelt zu reagieren. Und die formt sich im Kontext mit dem Umfeld weiter aus.

Diese Anlage entwickelt sich zu unserer Persönlichkeit, die mehr oder weniger entspannt ist. Doch eine Persönlichkeit ist per se nie vollständig entspannt, denn sie bewegt sich immer zwischen Polen. Sie bewegt sich zwischen Beurteilungen (gut und schlecht) hin und her. Diese Urteile sind ihr ungesehenes Gefängnis. Da wir, im Normalfall, keine Ahnung von unserem Dasein haben, halten wir uns für die Persönlichkeit, die wir als uns selbst erfahren. Wir sind das Gefängnis für uns selbst. Bis es uns auffällt.

Denn es tut weh. Es tut weh sich selbst zu peitschen, sich anzutreiben, zu kritisieren, sich vor sich selbst und anderen zu verstecken, sich minderwertig zu fühlen, Angst zu haben und zu glauben, etwas stimme mit einem nicht. Man müsse etwas an sich ändern, um sich besser zu fühlen, um dazu zu gehören, zu wissen wie es geht, kompetent zu sein, sich als „jemand“ zu fühlen, besonders zu sein, geliebt zu werden, um sich mal entspannen zu können usw.

Der Schmerz muss schmerzvoll sein

In der ewigen vergleichenden, beurteilenden, verurteilenden Beschäftigung mit uns selbst und den anderen Menschen, ist es kaum möglich zu entdecken, wer wir sind, was uns in Wahrheit ausmacht und was es heißt, als wir selbst hier zu sein.

Es kann uns nur auffallen, wenn es SO weh tut, dass es uns auffällt.
Manchmal muss der Schmerz, in sich gefangen zu sein, so schmerzvoll werden, dass er zu uns durchdringen kann. Ins Bewusstsein, ins Bemerken: „Das tut mir weh!“, von dort ist es dann auch nochmal ein, unter Umständen, längerer Weg zur Erkenntnis von „Er, sie, es – tut mir weh!“, hin zu „Ich tu mir selbst weh!“

Ich tu mir selbst weh, indem ich weiter glaube jemand sein zu müssen, der erst noch etwas werden muss, um akzeptabel zu sein, ein gutes Leben zu führen, sich zu spüren, bei sich anzukommen …

Mir geschieht nach meinem Glauben

Ich tu mir selbst weh, indem ich mir einen Wert oder Wertlosigkeit zuspreche, indem ich glaube Stärken und Schwächen zu haben, gute und schlechte Eigenschaften. Ich beschneide und beschränke meine Möglichkeiten der Wahrnehmung dadurch. So wird nur „durchgelassen“ (ins Bewusstsein transportiert) was zu dem passt, was ich von mir denke und glaube.

Glaube ich minderwertig zu sein, tauchen ständig Zweifel an allem, was ich mache, denke und erfahre auf. Ich glaube diese Zweifel und halte damit den Teufelskreis aufrecht.

Wenn ich glaube, inkompetent und unwissend zu sein, werde ich eine Ausbildung nach der anderen machen, um mich endlich kompetent zu fühlen, doch den Zweifel in mir kriege ich nicht tot.

Es geht nicht um alle Urteile, sondern nur um Urteile

Wenn ich unbewusst (ohne es zu sehen) glaube, ohne anderen zu helfen, sie zu unterstützen, verlässlich zu sein und für sie zu sorgen, keine Existenzberechtigung zu haben, werde ich innerlich gezwungen sein zu helfen, zur Stelle zu sein und in das Leben anderer einzugreifen, um das Gefühl zu bekommen wichtig zu sein, um mich zu spüren …

Urteile, die wir über uns selbst lernen und fällen sind zahlreich und vielfältig. Deshalb geht es nicht darum alle aufzuspüren, sondern uns dessen gewahr zu sein, dass wir in einem Netz aus Urteilen über uns selbst und zwangsläufig auch über andere leben und welche verheerende Auswirkung das hat.

Der erste Schritt ist immer, überhaupt den Schmerz zu spüren, den wir spüren. Die Angst wahrzunehmen, die von unsere Gedanken entfacht und durch den Glauben an sie aufrechterhalten wird, das Leid direkt zu erleben, das wir uns zufügen.

Direktes Erleben = Direktes Sehen

Das, was direkt erlebt wird, wird direkt gesehen. Sobald etwas gesehen ist, sind wir nicht mehr das Gesehene. Es fällt von uns ab, als wäre es nie da gewesen.

Das ist der Prozess der Desidentifikation mit Eigenschaften, die wir uns zuschreiben. Am Ende des Weges wartet das einfache Sein. Es offenbart seine immerwährende Wahrheit der Definitionslosigkeit unseres Selbst.
Wir sind nur da. Mehr können wir über uns nicht wissen und nicht sagen.

Alles weitere ergibt sich aus diesem Dasein. Nimm die Blume auf der Wiese, zum Beispiel eine Margerite: So sieht sie aus. Wir sehen sie und empfinden sie einfach. Sie zaubert ein Lächeln auf unser Gesicht, wenn wir sie andächtig genug betrachten. Ihre vollendete Schönheit fällt uns auf.

Und wir sehen weiter … jede Blume ist vollendet, jeder Baum, jede Pflanze, jedes Tier, jeder Grashalm, jede Wolke, jeder Käfer alles, alles ist vollendet. Warum denn nicht wir? Du bist, genauso, wie Du bist einzig in Deiner Art und vollendet in Deiner Erscheinung. Egal, wie sie ist.

Wir sind Dasein

Wenn wir uns einfach als Daseiende erfahren, ohne uns mit kritischen, beurteilenden Augen und Herzen zu bewerten, können wir die einfache Schönheit unserer Anwesenheit entdecken. Wir können uns erlauben uns zu entspannen auf eine Art, die wir noch nie gefühlt haben, die sich nach Nähe anfühlt, nach „Ich-Hier“ und mehr nicht.

Von hier aus zeigt sich, was für uns natürlich ist. Und was nicht. Es zeigt sich von ganz allein, so wie jede Blume aus sich selbst heraus mit ihrem ureigenen Duft (für den sie nichts tun muss) alle Insekten anzieht, die für sie bestimmt sind, weil sie so ist, wie sie ist.

Bei einer Rose ist das anders als bei einer Margerite. Doch im Wesen sind sie gleich vollendet und frei von jedem Wert und jeder Wertlosigkeit.

Sein ist.

Ist diese einfache Einfachheit nicht unendlich schön?

 

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