Von der ersten bis zur letzten Perspektive - anhören

von Nicole Paskow

Es gibt zwei Worte, die einen Menschen davon abhalten etwas Fundamentales in sich selbst zu entdecken. Sie verhindern die Entdeckung seiner Selbstorganisiertheit. Damit meine ich die Entdeckung, dass er nichts tun muss, um sein Leben auf eine stimmige Weise zu leben. Die zwei Worte sind „sollte“ und „müsste“. „Ich sollte dieses und jenes tun oder nicht tun und ich müsste eigentlich auch noch dieses und jenes …“ Beide Redewendungen sprechen davon, dass wir gar nicht tun wollen, was wir sollten oder müssten. Denn sonst würden wir es einfach tun. Wir glauben also etwas tun zu müssen, was wir gar nicht wollen, damit wir etwas erreichen, was wir ohne dies nicht erreichen würden. Deshalb sollten und müssten wir.

Wir sollen und müssen schon vom Kindergarten an Dinge tun, die wir nicht wollen. Damit wir in diese Gesellschaft passen und in diesem System Fuß fassen. Aus diesem Grund sind wir es zutiefst gewohnt das, was uns natürlicherweise nah liegt, zu ignorieren und stattdessen Dinge zu tun, die uns mit der „Außenwelt“ versöhnen und die nichts mit unserem wahren Potenzial und Willen zu tun haben. Der Preis ist eine innere Entfremdung. Überforderungen und Burnouts, Depressionen, innerer Druck und Stress sind die Folgen von „sollte“ und „müsste“.

Die meisten Menschen leben in einer inneren Anspannung, die ihnen oftmals nicht bewusst ist. Das Funktionieren als Teil eines Systems ist mit Anpassungen verbunden, die ein inneres Gespaltensein aufrechterhalten. Viele glauben zutiefst, dass es sein muss in einer Arbeit auszuharren, die nichts für sie ist, in Partnerschaften zu bleiben, die ihnen seelisch und manchmal sogar körperlich schaden, an Orten zu leben, die vielleicht praktisch sind, aber laut und stressig.

Verstrickte Sicht

Sie meinen, dass es nötig ist sich selbst ganz hintenanzustellen und anderen immer den Vortritt zu lassen, sich um alles und alle kümmern zu müssen usw. Diese Glaubensmuster machen sie eng, unglücklich, aggressiv, krank und depressiv. Das Festhalten an diesem Glauben, dass die Dinge so sind, wie sie sind und der Mensch sich an sie anzupassen hätte, ist das größte Hindernis für Selbsterkenntnis und Bewusstseinserweiterung.

Es handelt sich hierbei um eine kindliche Haltung, die sich bis ins Erwachsenenalter hineinzieht und das Erwachsensein verhindert. „Ich mache, was mir gesagt wird.“ Wir bekommen es von klein auf regelrecht installiert. Und so wird die Selbstwahrnehmung verhindert. Wir sind so damit verschmolzen, dass wir oft keinen Fuß in diese Tür bekommen und nicht mitbekommen, wie tief wir darin verstrickt sind und wie umfassend unsere Lebensbereiche davon beeinträchtigt werden. Besonders Frauen sind davon betroffen, aber nicht nur.

Sich übermäßig verantwortlich zu fühlen, zum Wohl aller zu funktionieren, alles richtig machen zu wollen, ein guter Mensch zu sein – all das gehört zu diesem Glaubensmuster. Es verhindert überhaupt mitzubekommen, dass der andere Pol – denn jeder Mensch besteht aus gegensätzlichen Energien –  in den inneren Keller verbannt wird, wo er nicht etwa verschwindet.

Die dunkle Seite wächst mit

Nein … er sitzt dort und gärt und fault ungesehen und ungeliebt vor sich hin. Aber er ist da. Und wartet. Je mehr er unterdrückt wird, um so größer und übler wird er. Bis er eines Tages den Keller verlässt und sich Wege an die Oberfläche sucht. Über die Haut, über den Darm, über die Wut, die Bitterkeit, über giftige Bemerkungen, Genervtsein, über Sinnlosigkeitsgedanken, Erschöpfung, Panikattacken, passive Aggressionen und so weiter …

Wir wollen den angepassten Pol von uns leben und zeigen, damit wir gut „durchkommen“, doch diese Bevorzugung kreiert erst den entgegengetzten Pol. Deshalb sind die schlimmsten Verbrecher oft Menschen, denen man ihre grauenhaften Taten niemals zugetraut hätte. „Er war immer so nett, das hätte ich niemals gedacht!“, „Sie war so lieb zu allen, sie hätte doch keiner Fliege was zuleide tun können!“ …

Wer kennt die Berichte nicht? Doch es muss gar nicht so drastisch enden und sich so dramatisch zeigen. Was sich hier zeigt, ist eine natürliche Gesetzmäßigkeit, die man ganz leicht überall beobachten kann: Wird eine Seite betont, wird die andere Seite automatisch verdrängt.

Erstmal aufräumen

Hyperaktive Menschen, die nicht stillsitzen können, verdrängen die Angst vor ihren Gefühlen. Moralisch korrekte, integere Menschen, die alles richtig und nur Gutes tun wollen, verdrängen ihre unsoziale Seite, ihren Selbsthass, der nur dadurch entsteht, weil sie sich selbst zwingen Dinge zu tun, die sie gelernt haben zu tun, um gut und konfliktfrei durchzukommen, aber in Wirklichkeit sich selbst nie die Gelegenheit gegeben haben mal zu schauen, was ihnen wirklich gut tut.

Es gibt viele dieser Trübungen der Wahrnehmung, mit unterschiedlichen Auswirkungen. Doch immer wird eine Seite der Welt gezeigt und das Gegenteil davon vor sich selbst versteckt. „Mir geht es gut“, ist die ewig gleiche Antwort desjenigen, der sich so weit von sich entfremdet hat, dass er gar nicht mehr spürt, wie unwohl er sich in Wirklichkeit fühlt. Das wahre Ausmaß seiner Selbstunterdrückung zeigt sich dann oft in plötzlichen Krankheiten oder selbstzerstörerischen Ausbrüchen, die sehr intensiv ausfallen.

Die meisten Menschen müssen noch sehr viel in sich selbst aufräumen. Sie müssen sich dieser Mechanismen in sich zurerst gewahr werden, bevor sie mit Spiritualität überhaupt anfangen können. Zuerst kommt die Psychologie, dann die Spiritualität. Doch meistens wird das vermischt und es kommt ein Wust aus Halbwissen, Selbstflucht, Retraumatisierung, Dogmatismus und Teufelskreisen heraus, die einen oft sogar noch tiefer in Depressionen, Burnouts und sonstige psychische Krisen stürzen.

Heilsein ist kein Ergebnis – es ist

Spiritualität ist kein Heilmittel. Spirituelle Erkenntnisse dienen nicht dem Heilwerden der Psyche. Das Heilsein ist kein Ergebnis eines Erkenntnisprozesses.

Der Mensch IST heil. Alles an ihm stimmt. Nichts ist falsch. Er ist mit allen Instrumenten ausgestattet, die ihm ein stimmiges Leben aus dem Heilsein heraus ermöglichen.

Aber er kann dieses Heilsein nicht wahrnehmen. Es ist ein wenig so, als ob wir eine Brille aufhaben und uns beim Heranwachsen ein Brillenglas mit schwarzer Folie zugeklebt wird. Deshalb nehmen wir nur durch ein Auge wahr, was wir durch die Brille sehen können. Ein Teil von uns bleibt im Dunklen, wir bekommen ihn nicht mit. Die Psychologie ist dafür da, die Folie abzukratzen damit wir mitbekommen, dass wir zwei Augen haben, mit denen wir sehen können.

Jetzt haben wir einen Begriff davon, was es bedeutet das ganze Bild durch die Brille zu sehen. Beide Pole sind nun da. Wow! Die Kellerkinder sind befreit! Und wir leben noch! Es fühlt sich sogar vollständig an, das Gute und das Schlechte in uns ohne Urteil wahrzunehmen! Wenn das auf einem gewissen Niveau geschehen ist, sind wir soweit uns mit Spiritualität zu beschäftigen.

Unsere wahre Natur

Denn die ist für etwas ganz anderes da. Sie schafft kein psychisches Gleichgewicht. Sie offenbart unsere wahre Natur. Und dafür zeigt sie uns überhaupt erstmal, dass wir eine Brille aufhaben. Das ist uns vorher gar nicht bewusst. Sie zeigt uns, dass wir gar nicht mit unseren echten Augen sehen.
Sondern durch einen Filter, der „Ego“ heißt. Dieses „Ego“ ist es, das Pole hat und alles in Positiv und Negativ einteilt. Die Spiritualität ist dafür da uns bewusst zu machen, wer wir wirklich sind.

Sie weist direkt auf das Heilsein hin, das schon immer war, das wir nur nicht wahrnehmen konnten, weil wir durch eine Brille geschaut haben, durch die wir auch noch die längste Zeit nur die Hälfte gesehen haben.

Die Spiritualität bietet uns eine vollkommen neue Weltsicht, für die wir nicht bereit sind, solange wir an unserer Brille festhalten und uns selbst und die Dinge, die wir wahrnehmen, in gut und schlecht einteilen wollen. Der Sprung von der Psychologie zur Spiritualität ist in etwa so groß, wie von der zweiten zur dritten Dimension. Wie von den Strichmännchen zur Räumlichkeit. Und dieser Sprung ist unbestechlich. Wir können nicht so tun als ob.

Keine Heuchelei

Es hilft also nicht uns selbst vorzumachen, dass wir Licht und Liebe sind und heimlich die Gerda zu hassen, weil sie so blöd ist. Vor ihr aber lieb und nett zu tun und sie anzustrahlen, um ihr zu beweisen, wie erleuchtet wir sind. Ich habe sowas oft erlebt. Strichmännchen bleibt Strichmännchen. Wenn es zur dritten Dimension erwacht ist, erkennt es, dass es nie ein Strichmännchen war. Dann ist auch alles, was zur Strichmännchenwelt gehört hat, vorbei, als hätte es nie existiert. Jetzt ist es ein 3D-Männchen, das sich in Räumen bewegt, als hätte es das schon immer getan. Was es auch hat.

Der Mensch, der sich seines Heilseins bewusst ist, hat keine Angst. Er ruht in seiner Präsenz, die Heilsein ist. Er ist integer, authentisch und natürlich freundlich. Er muss niemandem etwas vormachen, was nicht stimmt. Er versteckt sich nicht und ist zu jedem wie er ist. Er ist ein Mensch, der sich selbst nicht definiert und deshalb auch nicht unter sich selbst leiden kann. Er weiß, dass er nicht definierbar ist, denn Definitionen gehören in den Bereich der Egozentrik, die nur durch Benennungen existiert.

Er braucht keine Bestätigung von anderen, weil er um seine Ganzheit weiß, er weiß darum, weil er nicht mehr über sich selbst nachdenkt. Je weniger er nachdenkt, um so näher ist er sich selbst. Er ist einfach. Das reicht aus, um gut zu leben und zu tun, was er tut. Stimmig und angemessen. Selbstorganisiert, ohne selbst zu organisieren.

Quantensprünge

Und von dort aus ist es nochmal ein weiterer Quantensprung zu jener Spiritualität, die sich um die Existenz selbst kümmert. Um die Erscheinung des Menschen in der Welt und um die Erscheinung der Welt an sich. Sie beleuchtet, woraus die Existenz eigentlich besteht. Und kommt zu dem Schluss, dass ab einem gewissen Grad der Selbsterkenntnis deutlich wird, dass hier nichts substanziell existiert. Alle Materie erscheint im Bewusstsein als Materie, doch es existiert nichts außerhalb von Bewusstsein. Im Grunde ähnelt die Existenz der Welt viel mehr einem Traum, den ein Träumer träumt, der den Traum selbst niemals betreten kann.

Doch dieser Träumer, der seinen Traum nicht betreten kann, worin existiert denn er? Spätestens hier kommen wir dem Schweigen sehr, sehr nah. Denn hier ist die Grenze unserer menschlichen Erkenntnisfähigkeit erreicht. Ich bin ein Träumer, der sich selbst als Nicole in der Welt zusammen mit der Welt träumt, doch niemals in der Welt, die er träumt, auftauchen kann. Ja, woraus besteht denn dann die Welt, wenn sie von jemandem kreiert wird, der gar nicht „da“ ist?

Alles, was wir dazu sagen können, ist: aus nichts. Die Welt besteht aus nichts als leerem Geist. Und selbst das ist noch zu viel gesagt. Das Unsagbare, in dem sich etwas regt: die Wahrnehmung der Welt.
Aus dieser letzten Sicht betrachtet, ist das, was der Mensch seiner Natur nach ist, unaussprechlich, weder anwesend noch nicht anwesend, unberührt und unabhängig von jeder Wahrnehmung.

Totaler Quatsch in der Dimensionslosigkeit

Aus der egozentrischen menschlichen Sicht, also durch die halboffene Brille gesehen ist das, womit sich diese Spiritualität beschäftigt, völliger Humbug. Unverständliches Zeug. Spinnerei. Und das ist auch ganz natürlich, dass das so gesehen wird. Es handelt sich hier um verschiedene Dichtegrade des Sehens. In der letzten Perspektive verschwindet sogar das Sehen selbst in die Unsagbarkeit und mit ihm auch die letzte Perspektive.

In der egoischen Sicht existiert das Sehen noch gar nicht, weil es nur den Traum gibt, der als die Welt erscheint. Harte Materie mit Naturgesetzen. Genausowenig kennt das Ego Heilsein und Ganzheit. Obwohl Ganzheit nie nicht existiert und das Ego überhaupt nicht. Die Zweidimensionalität existiert auch nur, weil es die Dreidimensionalität gibt. Doch sie verschwindet als eigene Existenz, sobald sich die Dreidimensionalität erkennt.

Doch das alles kann nur aus der Dimensionslosigkeit selbst gesehen werden, in die alles hineinfällt, was erscheint und der alles entstammt. Am Ende des Gewahrseins wird alles in sich eingesaugt und gesehen, dass nie etwas geschehen ist und nie etwas geschieht. Egal, was sich regt.

Aber da nunmal der „Lingam in der Yoni vibriert“, schleudert es das Sehen auch immer wieder ins Gewahrsein und damit in die Welt und damit ins Ich und in den ganzen Schlamassel, vor dem wir uns oft nur im Schlaf erholen können. Oder in der letzten Perspektive.

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