Was ist Deine Urwunde? - anhören

von Nicole Paskow

 

Wenn man in sich den Drang spürt, herausfinden zu wollen, warum man immer die gleichen Schwierigkeiten erlebt und darüber hinaus in Erfahrung bringen will, was die innere Wirklichkeit ist, wer man selbst ist, dann gibt es wunderbare Werzkeuge, um die Aufmerksamkeit von der Außenwelt abzuziehen und in die naheliegendste Wahrnehmung zu schauen: Ins Innere.

Denn nur im Nächstgelegenen, für das man oftmals blind ist, weil der Blick immer zum anderen hin strebt, liegen die Antworten. Den Schatz, den man in der Welt sucht, findet man bekanntlich dort, wo man losgelaufen ist: zu Hause.

Das Enneagramm ist ein sehr effektives Werkzeug, um die Persönlichkeitsstruktur, oder die Urwunde, wie ich sie nenne, herauszufinden, die sich über das legt, was wirklich ist. Sie ist wie eine Brille, durch die wir blicken, von der wir aber nichts wissen. Bis wir sie sehen können. Es wird sichtbar, dass es darum geht einen Ausgleich durch Einsicht zu schaffen.

Alles hat zwei Seiten

Das Prinzip ist denkbar einfach:  Wir leben stets einen Pol nach außen hin und der andere wird verdrängt. Das Enneagramm hilft uns zu sehen, durch welchen Filter wir das Wahrgenommene interpretieren, welches unser Selbstbild ist, das wir der Welt präsentieren und was die andere Seite davon, die wir in den Keller des Unbewussten verdrängen.

Wenn wir Licht in den Keller lassen, dürfen die „Kellerkinder“ ins Freie und der Ausgleich der Erfahrungspole findet in der urteilsfreien Wahrnehmung statt. Wir sehen das Gesamtbild unserer Persönlichkeit. Von hier aus weitet und schärft sich der Blick der Wahrnehmung selbst und hat die Möglichkeit über die Persönlichkeit hinaus – auf sich selbst und damit auf die Wirklichkeit zu treffen, wie sie ist.

Das Enneagramm ist ein eigenes, komplexes Universum, auf das man sich entweder einlässt oder nicht. Mir hat es große Dienste erwiesen, weshalb ich es nicht unerwähnt lassen möchte.

Alles dient dem SEHEN

Doch ich werde die Strukturen nur anreißen, um denen, die es noch nicht kennen, einen kleinen Einblick zu verschaffen. Die Urwunde herauszufinden ist ein großes Geschenk, das einem Menschen erstmals durch das SEHEN dessen, dass das, was man für natürlich und normal gehalten hat, nicht so ist, sondern nur eine Sichtweise von vielen.

Das relativiert die Dringlichkeit, Ernsthaftigkeit und Starrheit des eigenen Selbst- und Weltbildes, mit dem man die Dinge des Lebens bewertet und schafft Raum für die Entdeckung der Wirklichkeit.

Es gibt, im Groben, neun Persönlichkeitsstrukturen, die selbst noch einmal in sich unterteilt werden, doch hier möchte ich nur auf die Hauptstränge eingehen, um Dir einen Überblick zu verschaffen.

 

 1. Der Selbstoptimierer

Hier handelt es sich um die tiefe, unbewusste Annahme, nicht richtig und gut zu sein, so wie man ist. Es wird beständig versucht sich an einem hohen inneren Ideal zu orientieren, das den höchsten Ansprüchen an Wahrheit, Integrität, Anständigkeit, Hilfsbereitschaft, Kompetenz, Stärke, Fairness, Güte usw. entspricht. Hier herrscht die Maxime, dass die Moral des eigenen Verhaltens zur Grundlage des Verhaltens aller werden könnte und auch sollte.

Man wird von einer Art Über-Ich beherrscht, einem inneren Kritiker, einem Richter, der das richtige Verhalten diktiert, der zur Perfektion antreibt und alles kritisch bewertet, was gedacht, gefühlt und getan wird. Er gemahnt stetig an die hohen inneren Verhaltensmaßstäbe und lässt sie ordentlich, aufgeräumt und klar wirken und sie die Dinge stets an ihren richtigen Platz stellen.

Selbstoptimierer unterdrücken negative, rohe, animalische Gefühle und spontane Impulse, weil sie nicht in das Selbstbild der freundlichen, vernünftigen Güte passen und wirken nach Außen dadurch oft schwer, steif, undurchdringlich, korrekt, distanziert und kontrolliert.

Nichts ist perfekt, alles ist vollkommen

Sie leiden fast schon körperlich an der Unvollkommenheit, der Nichtperfektion der Welt und versuchen sie beständig zu korrigieren und an ihre Vorstellungen von Richtigkeit anzupassen. Sie sind Reformer, Qualitätskontrolleure, Lehrer und Prediger und setzen sich für die gerechte und gute Sache für alle ein.

Nicht selten wird aus dem Drang nach Gerechtigkeit eine Selbstgerechtigkeit, für die sie allerdings blind scheinen. In ihrer Nähe fühlen sich andere Menschen manchmal unvollkommen und fehlerhaft. Man bekommt schnell ein schlechtes Gewissen im Zusammensein mit ihnen. Ihre manchmal rigide Art der Zurechtweisung, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen, ist dabei nur ein schwacher Ausdruck für den kritischen Selbsthass, dem sie sich selbst im Inneren ausgesetzt fühlen.

Die Bewertung ist der Widerstand

Der Weg des Selbstoptimierers liegt im Zulassen seiner Gefühle. Die Bewertung ist es, die das echte Fühlen vermeidet. Unter der Wut, die sie oft spüren, weil die Welt und die anderen Menschen so fehlerhaft sind, liegt die Traurigkeit, weil etwas nicht so ist, wie es sein sollte oder hätte sein können.

Gelingt dieses Loslassen und in die Gefühle Fallenlassen, so steigt Mitgefühl auf, dass alle bereits das geben, was sie können oder gegeben haben, was sie konnten. Mit den vorhandenen Mitteln wurde das beste Ergebnis erzielt. Alles ist gut so, wie es ist. Du musst nichts tun, alles darf geschehen. Das sind Schlüsselsätze, die ihnen die Erlaubnis zum Loslassen geben.

Im Herzen der Selbstoptimierer liegt die Reinheit des Seins, das frei ist von Vorstellungen über Gut und Böse, die durch gesellschaftlich angelernte Werte und Normen oder durch religiöse Wahnideen festzustehen scheinen. Hier zeigt sich die heitere Gelassenheit, die ihrem Wesen innewohnt – die klare Nüchternheit und reine Gegenwärtigkeit, die sich aus dem losgelassenen Sehen der beständigen Vollkommenheit, die schon immer ist, ergibt.

 

 2. Der sich selbst aufopfernde Helfer

Diese Urwunde betrifft Menschen, die ihren Selbstwert allein daran messen, wie nützlich sie für andere Menschen sind. Oft haben sie bereits als Kinder ihre Eltern unterstützt und dadurch kaum erfahren, was Kindsein bedeutet. Sie haben zu früh zu viel Verantwortung aufgeladen bekommen und Anerkennung über ihr Nützlichsein erfahren.

Deshalb erleben sie sich hauptsächlich im Kontext des Helfens und Daseins für andere. Unter ihnen befinden sich die Übermütter, und Überväter, die überfürsorglichen Ehefrauen und Ehemänner, die ungefragt ihre Hilfe anbieten und ihr Umfeld dadurch kontrollieren, in dem sie sich unentbehrlich machen.

Was nicht gesehen wird ist, dass das scheinbar selbstlose Helfen nicht selbstlos ist. Bleibt der Dank längere Zeit aus, kommt es zu Wutausbrüchen und Anklagen. Das ungeliebte innere Kind kommt nicht durch mit seiner Strategie des Helfens und sein gekränkter Stolz zeigt sich vehement.

Ich helfe Dir und dafür liebst Du mich

Es geht darum durch das Helfen gesehen und geliebt zu werden. Die Helfer sind charismatische Menschen, denen man schlecht widerstehen kann, weil sie wirklich hilfreich sind. Für sie gilt es zu lernen, dringend die eigenen Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen und in Frieden mit sich allein zu sein und sich nicht permanent in Bezug und in Beziehung zu anderen erleben zu müssen, damit sich tiefe Entspannung einstellt.

Durch das stetige Zulassen der Erfahrung auch eine Existenzberechtigung zu haben, wenn sie einfach nur da sind, und es nicht als tödlichen Egoismus zu werten, nicht zu helfen und bei sich zu bleiben, erfahren sie die Stille, nach der sie sich sehnen.

Wenn sie den Mut und Willen aufbringen innerlich für sich allein zu sein und für sich selbst zu stehen, entdecken sie die Leere und das einfache Gewahrsein, das ihnen innewohnt. Aus dieser Haltung heraus geschieht das Geben ohne die persönliche Note. Helfen wird zur reinen Güte, dort wo es angemessen ist. Mit herzlicher Wärme und stimmiger Fürsorge unterstützen sie andere Menschen und sind tatsächlich unentbehrlich in dieser Welt.

 

3. Der erfolgreiche Macher

Menschen mit dieser Urwunde fällt es schwer ein inneres Selbstgefühl zu entwickeln. Sie erfahren sich über die Leistung, die sie erbringen und über die Kompetenz, die sie sich hart erarbeiten. Schon als Kinder wurden sie für ihre besonderen Leistungen anerkannt und dadurch angetrieben überall die Besten zu sein.

Sie sind die selbstverliebten, charismatischen Selbstdarsteller, die sehr authentisch wirken und allerorten das Bild des omnipotenten Machers oder der Macherin hinterlassen. Sie sind beliebt und gern gesehen auf allen Gesellschaften. Sie selbst erfahren sich als Workaholics, die alles für den Erfolg, das Prestige, ihre Arbeit – und ihr nach außen glänzendes Selbstbild tun.

Doch damit entfliehen sie einer inneren Leere, einer Hohlheit, weil sie kein Gefühl dafür haben, wer sie ohne all dies sind. Sie glauben, dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen, weil sie sonst nicht funktionieren. Es fällt ihnen schwer Kontakt zu ihren wahren Gefühlen zu knüpfen und den Dingen vertrauensvoll ihren eigenen Lauf zu lassen.

Selbsttäuschung und Manipulation

Sie täuschen sich und andere über ihre Gefühle, über deren Tiefe sie sich selbst nicht im Klaren sind, weil da nichts zu sein scheint. Ihre größte Angst ist die Begegnung mit dem Schmerz der Einsamkeit, der Wertlosigkeit, der Überwältigung der eigenen Nichtigkeit.

Doch genau diese Begegnung birgt in sich den Fall in ihre einfache Menschlichkeit, die sie in die Verbundenheit mit sich selbst und dadurch auch mit der Welt führt.

Dafür müssten sie die Masken der Selbsttäuschung und Manipulation herunterreißen, die sie vor dieser Begegnung schützt, denn im Aufrechterhalten der Fassade des idealen Partners, Mitarbeiters, Chef’s, Kollegen, Sohns oder der idealen Tochter usw. muss die Angst vor der unbewusst empfundenen Nichtigkeit nicht gefühlt werden.

Selbstgefühl und Wahrhaftigkeit

Nur die anderen zu fühlen, sich selbst aber nicht, lässt sie nicht erkennen, welche Motive ihrem Handeln zugrunde liegen. Und wie sehr sie nach der Anerkennung des anderen streben, für die ihnen jedes Mittel recht ist.

Aufrichtige Gefühle, echte Kommunikation, wahrhaftige Handlungen bringen Licht in diese Wunde, die nur dazu da ist, um diese Menschen in die Liebe zu führen, die sie sind. Es geht um die einfache Erfahrung, der allesumfassenden Liebe, die ist, wenn nichts getan wird, um sie zu erreichen. Im ehrlichen Mitgefühl mit sich selbst, zeigt sich ein tiefes Mitgefühl und ein Verbundensein mit und in der Menschenfamilie. Hier löst sich alles Unechte auf in fließende Berührtheit, die sich im Leben als Tiefe im Fühlen und Wahrhaftigkeit im Handeln offenbart.

 

4. Der kreative Außenseiter

Wer durch diese Brille sieht, fühlt sich überall fehl am Platz. Es scheint keine Gruppe zu geben, zu der man gehört. Der kreative Außenseiter fühlt sich abgeschnitten von der Welt und den anderen Menschen, als müsse er immer draußen stehen und könne nicht wirklich mitspielen. Deshalb flüchtet er in seine reiche, aber einsame Vorstellungswelt, die originell, einzigartig und eigen ist.

Eben anders und besonders. Er spürt stets die Diskrepanz zwischen sich selbst und den anderen, was den unbewussten Schmerz aufrechterhält, der jene Traurigkeit ausmacht, die sie wie ein dunkler Schleier zu umgeben scheint. Das Schöne, Wahre und Gute wird stets dort gesucht, wo man selbst nicht ist, denn das, was man ist, wird nicht auf spürbare Weise wahrgenommen und wertgeschätzt.

Die tiefe Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit, nach Verbundenheit und Akzeptanz lässt sie das Nahegelegene übersehen und das Außergewöhnliche anstreben.

Die eigene Welt als Grenze zur Welt

Sie sind die Künstler unter uns, die ihre Innenwelt als Brücke in die Welt präsentieren und leiden, wenn sie nicht anerkannt wird. Wie Boote ohne Ruder verlieren sie sich in ihren Emotionen, die sie wie aufgewühlte Wellen in die Tiefe ziehen und werden hin und hergeworfen von den starken Energien, die in ihnen walten. Verwirrung und Chaos begleiten sie und nicht selten fühlen sie sich unfähig einer geregelten Arbeit nachzugehen, sich anzupassen und einzuordnen.

Auf der anderen Seite sind sie hochanalytisch und scharfsichtig. Sie erfassen das Wesen anderer Menschen und den Kern von Situationen, weshalb sie oft auch in therapeutischen Berufen zu finden sind. Sie scheuen sich nicht davor den großen Gefühlen zu begegnen und sind hilfreiche Begleiter durch die inneren Stürme.

Bei dieser Urwunde geht es darum der abgewehrten Traurigkeit in die Tiefe zu folgen und sie in unverrückbarer Präsenz zu fühlen. So finden sie zu ihrer Wurzel zurück, die ganz am Ursprung der Existenz wohnt. Es geht darum wirklich bei sich zu bleiben und nicht in die Welt der tausend Möglichkeiten zu streben, denn das Gute liegt so nah!

Stille und Präsenz

Wenn sie dem wahren Gefühl in die Tiefe folgen und es sehend begleiten, statt sich wegreißen zu lassen von intensiven Emotionen, begegnen sie der Tiefe des Meeresbodens in sich selbst, der unbewegt und still in sich ruht.

Von hier aus gesehen, gibt es nichts, das die Bestätigung der Einzigartigkeit der Existenz selbst benötigt. Sie fühlt sich selbst. Dann zeigt sich an der Oberfläche die Tiefe der Gefühle, in Wahrheit und Klarheit geborgen. Dann können sie der Welt auf ganz eigene Weise von diesem und aus diesem verwurzelten Einssein berichten.

Sie inspirieren mit Freude und Leichtigkeit, den Blick in die Tiefe der eigenen Existenz zu wagen und die Schönheit und Ursprünglichkeit der Seele selbst zu erblicken. An diesem Urgrund sprudelt die Freude der Lebendigkeit, die sich als Dasein ergießt.

To be continued …

 

Wenn Dich dieser Beitrag inspiriert hat, freue ich mich über eine Spende Deiner Wahl.

Zur Buchung eines Gespräches geht es hier entlang