Die Basis unseres Daseins- anhören

von Nicole Paskow

 

Stell dir vor, Du sitzt an einem stillen See. Die Oberfläche ist so glatt, dass sie alles widerspiegelt, was sie umgibt: Bäume, Himmel, Wolken. Du blickst hinein und siehst Dich selbst. Klar und unverfälscht – bis jemand einen Stein hineinwirft. Plötzlich wird das Bild verzerrt, Wellen durchziehen die Oberfläche, und das, was so offensichtlich war, verschwindet in der Bewegung.

Das ist unser Dasein: Der Raum, der wir sind, ist wie dieser See. Eine unendliche Klarheit und Stille, in der alles Platz findet. Doch von Kindesbeinen an lernen wir, den Stein immer wieder hineinzuwerfen. Anpassung, Selbstverleugnung, der Drang, geliebt zu werden – all das erzeugt die Wellen, die uns den Blick auf unsere wahre Natur verstellen.

Die erste Prägung: Anpassung um jeden Preis

Als Kinder sind wir vollständig abhängig von der Zuwendung und Liebe unserer Bezugspersonen. Ohne sie könnten wir nicht überleben. Und so entwickeln wir Strategien, um ihre Aufmerksamkeit zu sichern. Wir werden „lieb“, still oder unauffällig. Oder wir tun genau das Gegenteil, werden laut, rebellisch, fordernd. Wir lernen früh: „So, wie ich bin, reicht nicht.“ Und wir können gar nicht lernen, uns selbst zu sehen, wie wir sind, es fehlt schlicht der klare Spiegel einer unverzerrten Aufmerksamkeit, die wir als Kinder so dringend brauchen, um genug Raum zu bekommen, in dem wir uns selbst wahrnehmen können.

Diese Muster begleiten uns oft bis ins Erwachsenenalter. Sie werden zu Filtern, durch die wir unser Leben wahrnehmen. Sie sind wie getönte Brillen, die alles einfärben. Und sie haben eine gefährliche Nebenwirkung: Sie halten uns in einer Illusion gefangen. Einer Illusion des Mangels, des Nicht-genug-Seins.

Der Blick durch den Filter: Leben im Mangel

Mit diesen Filtern sehen wir die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir glauben, dass sie ist. Wir erleben das Leben durch die Geschichten, die wir uns erzählen: „Ich werde nicht genug gesehen.“ „Ich muss kämpfen, um geliebt zu werden.“ „Die anderen behandeln mich ungerecht.“ Diese Geschichten scheinen so wahr, so real. Doch das sind sie nicht. Sie sind wie Schatten auf einer Wand – Projektionen unserer alten Anpassungsstrategien.

Die Folge? Ein Leben in Trennung. Wir teilen die Welt in gut und schlecht, in richtig und falsch. Und während wir all das bewerten, verpassen wir, was wirklich da ist. Den Raum, in dem all das geschieht. Uns selbst. Den wahren Hintergrund von allem.

Der Wendepunkt: Der Wunsch zu sehen

Irgendwann aber – vielleicht nach einem Schicksalsschlag, einer tiefen Unzufriedenheit oder einem stillen inneren Drängen – kommt der Punkt, an dem der Wunsch entsteht, klar zu sehen. Wirklich zu sehen. Dieser Moment ist wie ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht. Plötzlich wird uns bewusst, dass wir die Identifikation mit unseren Gedanken und Gefühlen loslassen müssen. Dass wir die getönte Brille abnehmen können, dass es tatsächlich möglich ist.

Doch das ist nicht einfach. Denn solange wir an unseren Gedanken und Gefühlen festhalten, scheinen sie uns so massiv, so unumstößlich. Sie diktieren unser Leben – bis wir erkennen, dass sie keine Substanz besitzen. Das ist der Moment, an dem sich etwas entschieden hat in uns, etwas, das sich sagt: „Ich will es wissen! Um absolut jeden Preis!“ An diesem Punkt sind wir bereit die Brille der Selbsttäuschung abzunehmen und uns selbst auf eine unpersönliche Art zu betrachten, die uns zeigt, was ist und nicht was sein sollte.

Die zwei Wege zur Erkenntnis

Menschen nähern sich dieser Wahrheit oft auf zwei unterschiedlichen Wegen. Beide führen zum selben Ziel: zum Raum, der wir sind.

Weg 1: Zurück aus der Identifikation

Viele von uns kommen tief aus der Identifikation mit ihren Gedanken und Gefühlen. Sie werden von ihren eruptiven Gefühlen hin und her geschleudert und erleben sich oft haltlos und verloren in der Welt. Für sie ist der Weg der, diese Muster zu durchschauen. Indem wir uns selbst beobachten, sehen wir, was in uns geschieht: die aufsteigenden Gedanken, die Wellen von Gefühlen. Sobald wir sie klar sehen, lösen sie sich auf. Es ist wie das Betrachten einer Wolke, die langsam am Himmel vorbeizieht. Sie verliert ihre Schwere und verschwindet.

Das Sehen selbst wird zum Schlüssel. Es ist nicht mehr nur ein aktives „etwas tun“, sondern ein stilles Gewahrsein. Ein Raum, in dem alles Platz hat, ohne festgehalten zu werden.

Weg 2: Heraus aus dem Raum

Andere Menschen stammen bereits aus diesem Raum. Sie haben gelernt, sich im Hintergrund zu halten, ihre Gefühle zu vermeiden, um sicher zu sein. Sie haben sich von der Lebendigkeit des Lebens abgekoppelt, aus Angst vor der Konfrontation mit den eigenen Gedanken und Gefühlen, denn sie haben gelernt, dass genau dies gefährlich ist. Für sie besteht der Weg darin, aus dem sicheren Raum hervorzutreten und in die Intensität der wahrhaftigen Gefühle einzutreten und sie auszualten. Sich dem Leben zu stellen. Die Gefühle zuzulassen und zu sehen, dass sie nichts Bedrohliches an sich haben. Dass sie, im Gegenteil, der Schlüssel zur Lebendigkeit und inneren Ganzheit sind.

Dieser Schritt erfordert Mut – den Mut, sich ins Licht zu stellen und gesehen zu werden. Und gleichzeitig, sich selbst zu sehen.

Der Raum, der wir sind

Der Wendepunkt auf beiden Wegen ist derselbe: die Erkenntnis, dass alles, was geschieht – die Gedanken, die Gefühle, die Polarität von gut und schlecht – in einem Raum stattfindet. Und dass dieser Raum wir selbst sind. Wir sind nicht die Wellen auf dem See. Wir sind der See.

In diesem Moment fällt die Identifikation. Das Leben wird klar, still und weit. Wir erkennen, dass die Geschichten, die wir uns erzählen, keine Macht über uns haben. Dass wir nicht mehr kämpfen müssen, um geliebt zu werden. Denn wir sind das, was wir suchen: der Raum, die Liebe, das Einssein.

Die Haltung des Sehen-Wollens

Der erste Schritt auf diesem Weg ist eine Haltung der Neutralität. Wie oft sind wir uns selbst gegenüber voller Erwartungen? Wir wünschen uns, anders zu sein, besser, stärker, ruhiger, geliebter. Doch all das verstellt uns den Blick. Neutralität bedeutet, uns selbst so zu sehen, wie wir sind. Ohne Urteil. Ohne die Wellen durch unsere eigenen Erwartungen aufzuwühlen. Überhaupt zu sehen, wie viele Erwartungen wir an uns selbst haben!

Es ist, als würden wir den Stein, den wir immer wieder in den See werfen, einfach in der Hand behalten. Und dann: warten. Sehen. Und erkennen.

Die Freiheit des Seins

Am Ende steht die Freiheit. Die Freiheit, das Leben so zu erleben, wie es ist – nicht durch die Filter unserer Geschichten. Die Freiheit, uns selbst zu erkennen, nicht als das, was wir glauben zu sein und sein zu sollen, sondern als das, was wir wirklich sind: der Raum, der alles umfasst, was wir als unser Ich erfahren.

Und Du siehst Dich selbst – klar und unverfälscht. Wie eine Landschaft, wie eine Blume. Als einfaches Sosein. Das ist die Basis unseres Daseins.

 

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