Angst vor der Liebe - anhören
Nichts kann einem so sehr Angst machen wie die Liebe. Ganz gleich, ob wir von der konditionierten Liebe sprechen, die sich auf einen anderen Menschen bezieht, oder von der wahren Liebe, die sich allein auf sich selbst richtet. Warum ist das so?
Ab dem Moment, in dem wir anfangen, uns selbst als etwas Eigenständiges zu sehen, trennen wir uns vom anderen ab. Wir beziehen unsere Wohnung und nennen sie „Ich“. Dieses getrennte Ich ist nun angehalten, sich zu verteidigen, sich zu bewahren, sich zu bestärken und zu schützen. Je nachdem, was es erlebt, begreift es seine Umwelt als freundlich, feindlich oder eine Mischung aus beidem – und fühlt sich entsprechend mehr oder weniger geliebt.
Wir vergessen unseren Ursprung, wenn diese Trennung geschieht. Wir fallen in den Film unseres Lebens und sind uns der zusehenden, wahrnehmenden Instanz nicht mehr bewusst. Kaum jemand kann sie uns zeigen, weil sich kaum jemand ihrer gewahr ist. Vor dieser geistigen Trennung – die nur scheinbar ist, sich aber real anfühlt – sind wir als Bewusstsein eins mit dem, was uns erscheint. Erst mit der Unterscheidung zwischen „mir“ und „dir“ beginnt das Drama. Im religiösen Kontext entspricht dies dem Fall aus dem Paradies. Wir werden uns unserer Anwesenheit bewusst, und diese geschieht durch die Trennung in Ich und Du.
Diese Trennung ist kein Problem, solange klar ist, dass sie nur scheinbar ist. Denn der Bewusstseinsstrom, der uns trägt und formt, ist niemals weg. „Gott“, wenn wir so wollen, ist niemals verschwunden. Er ist der Erschaffer und der Stoff, aus dem wir bestehen. „Ich bin eins mit dem Vater. Der Vater ist größer als ich.“ – so steht es im Johannesevangelium (Kap. 14, Vers 28). Übersetzt: Ich bin dasselbe wie das Gewahrsein, das ist – und doch ist das Gewahrsein größer als ich.
Das Verteidigungszentrum
Warum ist es größer? Bewusstsein – das Wissen um alles – ist das, worin ich als Mensch erscheine. Es ist größer als ich, weil es der Ursprung meiner Existenz ist. Ich als Mensch bin nicht das erschaffende Prinzip, ich bin das Erschaffene. Wir sind Bewusstsein in menschlicher Form und damit eins mit etwas, das größer ist als jede Form, die wir darstellen.
Bewusstsein ist immer da. Wenn wir uns dessen bewusst sind, stellt das die Rückverbindung zu unserem Ursprung dar. Denken, sehen und handeln geschehen dann wieder in Übereinstimmung mit diesem Ursprung. Wir sind verbunden mit dem Wissen um alles – mit dem Bewusstsein selbst.
Doch dieses Wissen macht dem abgetrennten Wesen, als das wir aufwachsen, Angst. Es wirklich zu verkörpern, erfordert einen echten Übergang von einer Dimension in die andere. Da wir gewohnt sind, zu verteidigen, was wir haben, geben wir unser Wissen nicht einfach her. Vor der Tür zur Unendlichkeit der Liebe steht die Angst – und sie müssen wir überwinden.
Warum macht Liebe so Angst? Weil sie uns zu nahekommt. Wir drohen, den Selbstschutz zu verlieren und uns in ihr aufzulösen – etwas, das das Verteidigungszentrum nicht zulassen will. Ihm ist nicht klar, dass es längst in Liebe gebettet ist. Es fürchtet Vernichtung, sobald es sich hingibt an etwas, das es nicht kontrollieren kann.
Die Falle der Abhängigkeit
All unsere zwischenmenschlichen Probleme sind letztlich Nähe-Distanz-Probleme. Wir wollen unsere Position niemals aufgeben – außer, wenn wir verliebt sind. In der Verliebtheit erleben wir eine Art Verschmelzung, die der mit unserem ursprünglichen Sein ähnelt. Grenzen werden durchlässig, wir erfahren ein „Wir“-Gefühl, das Glück erzeugt.
Doch sobald die Verliebtheit nachlässt – und das tut sie zuverlässig –, treten die Grenzen wieder hervor. Dann zeigt sich, ob wahre Liebe erkannt wurde oder nicht. Wenn ich glaube, dass Du mir etwas geben kannst, das mir allein fehlt, beginnt Abhängigkeit. Sie zerstört die Liebe, die zuvor da war.
Solange wir meinen, vom anderen etwas zu bekommen, das uns selbst fehlt, herrscht Korruption. Das abgetrennte Ich fühlt sich von Natur aus allein und sucht deshalb Gemeinschaft – ein Du, das es vervollständigt. Das nennen wir Romantik. Sie fühlt sich wunderbar an, ist aber eine Falle, die uns in Abhängigkeit und Unwahrheit hält.
Wer oft genug damit gescheitert ist, hat vielleicht die Chance, innezuhalten und zu erkennen, wo das Problem beginnt. Tief genug geschaut, zeigt sich: Die Annahme „Ich bin allein, ich bin getrennt“ ist falsch. Die einzige Trennung zwischen uns und der Welt – oder dem Du – ist der Gedanke, dass wir getrennt sind. Alle Probleme wurzeln in diesem Gedanken. Solange er nicht erkannt ist, tappen wir immer wieder in dieselbe Falle.
Welche Einsicht wir brauchen und welche Kraft es braucht, um die Rakete unseres Geistes von der Erdanziehungskraft zu lösen, besprechen wir heute im Freiraum. Infos hier: https://nicolepaskow.de/freiraum/
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.

Danke, Nicole, das ist ein Text, der den Finger genau auf die Wunde legt. Die größte Angst ist nicht vor dem, was uns bedroht, sondern vor dem, was uns ganz macht. Wahre Liebe fordert, dass wir das Bild von uns selbst aufgeben. Und genau das hält das „Verteidigungszentrum“ für gefährlich. In der Liebe zu bleiben ist meine größte Herausforderung. Aber dank des GEsprächs mit Dir, weiß ich, wo ich hinschauen kann. Herzensgrüße, Nina
Liebe Nina,
Ja, genau da liegt die Wunde: Dass uns nicht die Gefahr Angst macht, sondern das, was uns ganz macht.
Sich wirklich der Liebe hinzugeben – ohne Kontrolle, ohne Verteidigung, ohne Bedingungen – ist vielleicht das Radikalste, was ein Mensch tun kann. Und es ist nichts, was wir tun im üblichen Sinne. Es ist eher ein Nicht-mehr-Widerstehen.
„In der Liebe zu bleiben“ ist in Wahrheit kein Halten – sondern ein Sich-fallen-Lassen, immer wieder. Und das fühlt sich für das alte Selbstbild, für unser „Verteidigungszentrum“, erst mal an wie Sterben.
Aber was da stirbt, ist nie das, was wir wirklich sind. Im Gegenteil – was übrig bleibt, ist das, was nie weg war.
LG
Nicole
@Nina: Die Frage ist: Fordert Liebe etwas? Dann schreibst Du „in der Liebe zu bleiben“,
erinnert mich an ein Kurs in Wundern…meine Erfahrung: Ich kann weder in der Liebe bleiben noch sie verlassen. Aber vielleicht sagt/schreibt hierzu Nicole noch etwas, wie sie darauf schaut.
@Nicole: Du schreibst: Denken, sehen und handeln geschehen dann wieder in Übereinstimmung mit diesem Ursprung. Meinst Du damit das wir der „Handelnde“ sind, oder geschehen einfach Handlungen, aus Deiner Sicht?
Liebe Nina,
ich spüre, dass Du mit dem Verstand verstehen willst, was hier gesagt wird – aber darum geht es in meinem Text nicht. Das, worauf ich hinweise, lässt sich nicht denken, es lässt sich nur sehen. Es braucht keine Analyse, keine Einordnung, keine Klärung auf der Ebene von Konzepten.
Ich weiß, dass es für viele nicht leicht ist, den Raum des Denkens zu verlassen. Der Verstand gibt Struktur, Halt, scheinbare Kontrolle – und wenn er still wird, fühlt es sich oft an, als sei da nichts mehr, woran man sich festhalten kann. Genau das macht so viel Angst. Und genau da beginnt das eigentliche Sehen.
Wenn Du fragst, ob Liebe etwas fordert oder ob wir handeln oder gehandelt werden – dann sind das Fragen aus dem Raum des Denkens. Doch mein Text lädt ein, diesen Raum einmal still zu verlassen und sich dem direkten Erleben zu öffnen.
Ich schreibe nicht für den Verstand, sondern aus dem, was sich zeigt, wenn der Verstand still wird. Deshalb kann und will ich Deine Fragen nicht in der Weise beantworten, die Du vielleicht erwartest. Ich bin nicht hier, um dem Denken zu dienen – sondern um an das zu erinnern, was vor dem Denken ist.
Wenn Du sehen willst, wirst Du sehen. Wenn Du verstehen willst, wirst Du Dich verirren.
LG
Nicole