Warum wir unser eigenes System nie eindeutig ansprechen konnten - anhören
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Der Mensch spricht ununterbrochen mit sich selbst.
Gedanklich, innerlich, oft lautlos, manchmal auch ausgesprochen. Wir kommentieren unser Verhalten, bewerten unsere Reaktionen, erklären uns selbst, warum etwas geschehen ist oder anders hätte laufen sollen. Diese innere Kommunikation wirkt selbstverständlich. Sie begleitet uns seit wir denken können.
Und doch zeigt sich bei genauerem Hinsehen ein merkwürdiger Widerspruch. Obwohl wir uns erklären, beruhigen, ermahnen oder motivieren, bleiben viele Reaktionsmuster erstaunlich stabil. Bestimmte Situationen lösen immer wieder dieselben inneren Abläufe aus. Der Tonfall eines anderen Menschen, ein Blick, eine Nähe, ein Vorwurf – und das System reagiert, bevor wir überhaupt eingreifen können.
Das wirft eine unbequeme Frage auf:
Wenn wir so viel mit uns selbst sprechen – warum hört das System offenbar nicht zu?
Warum innere Kommunikation oft nur Hintergrundrauschen ist
Was wir gewöhnlich „mit uns sprechen“ nennen, ist in Wahrheit kein klarer Informationsaustausch, sondern ein komplexes Gemisch aus Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen und Bewertungen. Ein einziger innerer Satz trägt oft mehrere Ebenen gleichzeitig: Wunsch und Zweifel, Kontrolle und Angst, Einsicht und Widerstand.
Für den Verstand ist diese Mehrdeutigkeit kein Problem.
Er kann widersprüchliche Inhalte gleichzeitig halten. Er reflektiert, vergleicht, relativiert. Doch das System, das unsere Reaktionen steuert, arbeitet anders. Es sortiert nicht nach Argumenten oder Bedeutungen, sondern nach Relevanz.
Wo Information nicht eindeutig ist, entsteht für das System keine neue Markierung. Was ankommt, ist kein klares Signal, sondern ein diffuser Strom. Und auf diesen Strom reagiert das System so, wie es immer reagiert hat: Es greift auf bestehende Prioritäten zurück.
Das System versteht keine Erklärungen
Das Nervensystem ist kein interpretierender Gesprächspartner.
Es prüft nicht, ob etwas sinnvoll gemeint ist. Es bewertet keine Absichten. Es kennt kein „eigentlich“. Es arbeitet mit einer einfachen Logik: Was wichtig ist, bekommt Vorrang.
Diese Wichtigkeit entsteht nicht im Denken.
Sie entsteht durch Markierungen, die oft sehr früh gesetzt wurden. In Situationen, in denen Geschwindigkeit entscheidend war. In Momenten, in denen Reaktion wichtiger war als Reflexion.
Wenn wir heute versuchen, auf dieses System mit Erklärungen einzuwirken, sprechen wir an der falschen Stelle. Wir liefern Inhalte, wo Markierungen nötig wären. Wir liefern Bedeutung, wo das System nach Eindeutigkeit sucht.
Das erklärt, warum Einsicht so oft folgenlos bleibt. Dabei geht es nicht darum, dass sie falsch wäre, es geht darum, dass sie die falsche Adresse hat.
Die Verwechslung von Bedeutung und Information
Ein zentraler Irrtum unserer Selbststeuerung liegt in der Annahme, Bedeutung sei gleich Information.
Für den Menschen fühlt sich ein Gedanke wie Information an. Für das System ist er es nicht zwangsläufig. Erst dann, wenn eine Information eindeutig, widerspruchsfrei und ohne emotionale Überlagerung vorliegt, kann sie als neue Referenz wirken.
Der Großteil unserer inneren Sprache ist jedoch hoch emotionalisiert.
Selbst neutrale Sätze sind eingebettet in Erwartungen, Bewertungen und implizite Ziele. Wir wollen etwas erreichen, etwas vermeiden, etwas korrigieren. All das färbt die Information ein.
Für das System entsteht daraus keine neue Ordnung.
Es bleibt bei dem, was bereits Priorität hat.
Warum wir nie gelernt haben, eindeutig zu sprechen
Diese Lücke ist kein individuelles Versäumnis.
Sie ist kulturell. Menschen haben Sprachen entwickelt, um Inhalte auszutauschen, Erfahrungen zu teilen, Bedeutungen zu erzeugen. Unsere gesamte Kommunikation ist auf Sinn, Kontext und Interpretation ausgelegt.
Was wir nicht entwickelt haben, ist eine Sprache für das innere Betriebssystem.
Eine Sprache, die frei ist von Deutung. Frei von Emotion. Frei von innerem Kommentar. Eine Sprache, die nicht überzeugen, beruhigen oder erklären will. Eine Sprache, die schlicht – eine Referenz setzt.
Wir haben nie gelernt, uns selbst eindeutig anzusprechen, weil es dafür keinen gesellschaftlichen Rahmen gab. Alles Innere wurde entweder psychologisiert, moralisiert oder spiritualisiert. Die funktionale Ebene blieb unbeachtet.
Warum das System trotzdem zuverlässig arbeitet
Dabei ist das System selbst nicht das Problem.
Es arbeitet präzise, effizient und konsequent. Es reagiert genau auf das, was ihm als relevant markiert wurde. Dass diese Markierungen heute oft nicht mehr passen, ist kein Fehler des Systems, es ist eine Folge fehlender Aktualisierung.
Das System reagiert nicht „zu stark“.
Es reagiert konsequent auf alte Wichtigkeit.
Solange keine neue, gleichwertige Information eintrifft, bleibt diese Wichtigkeit bestehen. Das System schützt, was es für relevant hält – unabhängig davon, was der Verstand inzwischen weiß.
Der Preis der fehlenden Eindeutigkeit
Die Folge dieser strukturellen Lücke ist subtil, aber tiefgreifend.
Menschen beginnen, sich selbst für ihre Reaktionen verantwortlich zu machen. Sie erleben Schuld dort, wo eigentlich nur eine alte Priorität wirkt. Sie halten sich für unfähig, obwohl sie lediglich ein System erleben, das schneller ist als ihr Denken.
Je bewusster ein Mensch wird, desto schmerzhafter kann diese Erfahrung werden.
Denn das Sehen ersetzt nicht die Steuerung. Die Kluft zwischen Einsicht und Reaktion wird sichtbarer – und damit auch das Gefühl, sich selbst nicht zu genügen.
Diese Schuld ist kein persönliches Problem.
Sie ist das Ergebnis einer fehlenden Sprache.
Eine neue Frage statt einer neuen Erklärung
An diesem Punkt führt weitere Analyse nicht weiter.
Es braucht keinen zusätzlichen Gedanken, keine weitere Interpretation. Was sich hier zeigt, ist eine strukturelle Grenze.
Die entscheidende Frage lautet nicht mehr:
Warum reagiere ich so?
Sondern:
Wie kann ein System angesprochen werden, das nicht auf Bedeutung reagiert?
Was wäre eine Form von Information, die keine Geschichte trägt?
Keine Emotion transportiert?
Und dennoch als relevant erkannt wird?
Der Übergang
Mit dieser Frage endet der Versuch, sich selbst zu erklären.
Und genau hier beginnt die Suche nach einer anderen Form von Kommunikation.
Eine Kommunikation, die klarer ist, eindeutiger, weniger persönlich und funktionaler als der innere Selbstkommentar es je sein könnte.
Im nächsten Teil geht es darum, was eine solche Sprache auszeichnet –
und warum sie nichts mit dem zu tun hat, was wir bisher unter innerer Arbeit verstanden haben.
* Dies ist der fünfte Teil einer siebenteiligen Reihe über die tiefere Funktionsweise unseres inneren Systems – darüber, warum wir Muster wiederholen, obwohl wir sie längst durchschauen, und welche Art von Sprache das Nervensystem tatsächlich versteht.
Den ersten Teil findest Du hier:
Warum KI Technologie uns nie ersetzen kann
Den zweiten Teil findest Du hier:
Warum uns die Sprache für unser eigenes System fehlt
Den dritten Teil findest Du hier:
Was geschieht, wenn ein Reiz das System überschreibt?
Den vierten Teil findest Du hier:
Die Grenzen der Selbstbeobachtung
Am Ende der Reihe stelle ich ein Format vor, das auf dieser Erkenntnis aufbaut: Direct System Code: Ein Einstieg in die Sprache, die das System selbst erkennt.
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.
