Das Persönliche erscheint im Gewahrsein- anhören
Es gibt kein Leben jenseits dieses Augenblicks. Es gibt keine Zukunft, kein „dann“, kein „später“, kein „irgendwann“. „Später, irgendwann und dann“ sind Gedanken. Wahrgenommene geistig-energetische Muster. Sonst nichts. Es gibt keinen bleibenden Zustand. Es gibt eine Erfahrung. Und etwas, das die Erfahrung bezeugt: Bewusstsein. Ich bin Bewusstsein, das sich als diese menschliche Form erfährt. Mit allem, was darin auftaucht. Das Persönliche ist nicht das Hindernis – es ist der Ausdruck.
Die Reise meines Lebens besteht darin, durchlässig zu werden für alles, was mir begegnet. Nicht zu wählen, nicht zu ordnen, nicht zu kategorisieren, nicht zu planen, nicht zu bestimmen, wo es langgeht. Sondern direkt wahrzunehmen, was sich in mir zeigt. Wie jemand, der am Strand sitzt und zusieht, wie das Meer seine Wellen bringt und wieder zurücknimmt.
Die Sonnenstrahlen glitzern auf der Oberfläche, Möwen ziehen vorüber. Und ich nehme das Gesehene nicht nur wahr, sondern auch das, was es in mir auslöst: Ein Ziehen im Bauch. Eine helle Freude in der Brust. Ein angehaltener Atem. Ein süßes Gefühl im Herzen. Eine Weite hinter der Stirn. Eine Stille im Wesen.
Das Sein des Seins
Ich nehme wahr, dass ich wahrnehme. Ich trete einen Schritt zurück und sehe, dass ich mitbekomme. Ich bekomme mich mit – in meinen Reaktionen, meinen Bewegungen, meinem inneren Klima. Manchmal ist die Aufmerksamkeit auf das Mitbekommen gerichtet, manchmal ist sie vollständig eingetaucht in das Gefühl. Wie eine Robbe, die untertaucht, bevor sie wieder an die Oberfläche kommt.
Die Aufmerksamkeit lebt ihr eigenes Leben. Sie springt. Sie wandert. Sie verliert sich in Gedanken, in Emotionen, in Schleiern, in Wachheit. Sie lässt sich nicht steuern. Das ist kein Fehler. Es ist eine Beobachtung. Ich sehe, wo sie gerade ist – nicht mehr und nicht weniger. Sie blättert durch mein inneres Erleben wie durch ein Bilderbuch.
Manchmal verweilt sie auf Seiten mit der Überschrift: „Ich bin unglücklich. Ich brauche … aber bekomme es nicht.“ Und dann spüre ich, wie Schmerz sich anfühlt. Und dann zieht sie weiter, spielt mit Lichtreflexen auf den Wellen.
Freiheit ist keine Vermeidung
Die Aufmerksamkeit ist wie ein Vogel, der mal hier, mal dort landet. Und dieser Vogel ist nicht das Problem. Das Leben ist nicht das Problem. Das Persönliche ist nicht das Problem. Es ist das Erleben, das sich selbst erlebt. In Freude, in Trauer, in Ärger, in Angst, in Leere, in Euphorie. In Sorge, in Hoffnung, in Erwartung. Du erlebst das, worauf Deine Aufmerksamkeit gerade gerichtet ist. Das ist das ganze Erleben.
Was lenkt den Vogel? Ist er frei? Er ist frei, weil er gebunden ist. Er ist eins mit dem Wind. Er fliegt, weil er die Gesetze kennt, in denen er fliegt. Sie sind im eingeboren. Er muss nicht vertrauen, er ist. Freiheit heißt nicht „Ich mache, was ich will.“ Das ist keine Freiheit, das ist ein Kinderspiel. Die Freiheit, die der wahren Natur entspricht, ist: Ich bin frei zu erleben, was ich erlebe. Ich lehne nichts ab. Ich bin der Vogel, der fliegt, weil er ein Vogel ist.
Alles hat Bewusstsein für sich selbst. Sonst wäre es nicht da. Auch wir. Auch Du. Auch ich. Aber während der Vogel sich selbst erlebt, ohne zu zweifeln, glauben wir oft, wir müssten etwas loswerden, um klar zu sein. Wir glauben, die Klarheit liegt hinter dem Persönlichen. Dabei liegt sie mitten darin. Im Gedanken. Im Schmerz. Im Wunsch. Im Widerstand. In der Hoffnung. Im Verlust.
Wir sind nicht verloren, weil wir fühlen. Wir leiden, weil wir glauben, nicht fühlen zu dürfen. Wir halten uns fest an der Idee, dass etwas nicht sein sollte – und schneiden uns ab. Kein Vogel könnte fliegen, wenn er sich gegen das Fliegen wehrte.
Das Persönliche erscheint im Gewahrsein
Was bestimmt unsere Aufmerksamkeit? Was entscheidet, ob wir interpretieren oder direkt erleben? Was entscheidet, ob wir uns verstricken oder offen sind?
Es ist die Instanz, die mitbekommt. Die Instanz, die sieht, dass sie sieht. Und die nicht aufhört zu sehen, auch wenn Du Dich verlierst. Diese Instanz ist nicht außerhalb. Sie ist nicht übergeordnet. Sie ist nicht transzendent im Sinne von entrückt. Sie ist da – mitten im Persönlichen.
Mitbekommen heißt nicht, sich herauszuziehen. Es heißt, einzutreten. Mit jedem Gefühl. Mit jedem Gedanken. Mit jeder Welle. Mit jedem Bild. Es heißt, zu wissen, dass Du drin bist – und gleichzeitig weißt, dass Du es weißt.
Kein Trick nur das Wesentliche
Dieses doppelte Mitbekommen ist kein Trick. Es ist keine Technik. Es ist kein Zustand. Es ist Dein Ursprung. Du bist der Seismograph, der längst alles weiß. Nicht nur, was Du fühlst, sondern auch, wohin es Dich zieht. Du erkennst die Bewegung schon lange, bevor sie Dich in alte Muster führt. Und Du kannst den Kurs ändern. Nicht durch Kontrolle. Sondern durch offene Wahrnehmung. Sie steuert.
Offenheit ist der Schlüssel. Offenheit für alles, was sich in Dir regt. Nichts in Dir geschieht im Verborgenen. Alles wird mitgeschrieben. Alles ist sichtbar. Gewahrsein ist immer da.
Du brauchst, in Wahrheit, niemanden, der Dir sagt, was los ist. Du weißt es. Nicht kognitiv. Aber klar. Direkt. Ohne Umwege. Die Fenster Deines inneren Wahrnehmens waren nie verschmutzt. Da haftet nichts an. Alles perlt ab. Und doch geht alles hindurch. Genau das ist Bewusstsein: Offen. Wach. Nicht anhaftend. Nicht meidend. Und immer persönlich.
Du bist voll ausgestattet
Wenn Du erkennst, dass Du schon lange mitbekommst, was in Dir geschieht – wächst Dein Vertrauen in Dich. Du erkennst, dass Du Dir nicht vormachen musst, Du wüsstest es nicht. Du erkennst, dass Du nicht wegschauen musst. Dass Du nur glaubst, Du müsstest es – weil Du Konsequenzen fürchtest. Weil Du etwas nicht erleben willst.
Eine Begleitung ins Innere – wie ich sie anbiete – geht mit Dir diesen Weg. Solange, bis Du mit jeder Faser Deines Seins weißt, dass Du keine Begleitung in Dein Inneres brauchst, um direkt zu sehen. Weil der Blick des Anderen Dir hilft, Deinen eigenen Blick wiederzufinden, solange Ängste ihn verschleiern. Wenn die Angst weicht, siehst Du, was schon lange da ist. Du erkennst, was Du längst fühlst. Und dieses Erkennen setzt alles Weitere in Gang. Ja, das kann zunächst auch schmerzhaft sein, ist aber gleichzeitig eine Erlösung, weil Du nur immer mehr von Dir selbst erfährst. Und damit vom höchsten Vertrauten in Dir.
Und deshalb: Lass Dich nicht einfangen von Ideen, die verlangen, Dein persönliches Erleben zu transzendieren oder zu negieren. Lass Dir nicht einreden, Du müsstest über Deinem Menschsein stehen, um frei zu sein. Die Freiheit des Lebens – seine unpersönliche Weite – zeigt sich nicht jenseits, sondern inmitten Deines persönlichen Erlebens. In jeder Träne. In jedem Gedanken. In jedem Lächeln. In jeder Angst. In jeder Regung.
Das Unpersönliche durchdringt alles. Und es zeigt sich, weil Du da bist. Weil Du erlebst. Weil Du bezeugst. Weil Du Licht bist – das Licht, das alles durchstrahlt, was Du bist.
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.