Die Urwunde - anhören

von Nicole Paskow

Wenn wir hierbleiben, im einfachen Zustand des Daseins, des Nichtwissens, der Anwesenheit, kann sich zeigen, dass wir eine Art Magnetfelder für Gedanken und Gefühle sind. Jeder Mensch empfängt andere Gedanken und diese erzeugen andere Gefühle. Kein Mensch erfährt dasselbe, wie ein anderer. Und doch einen uns zwei Dinge: Unsere Natur und die Identifikation mit der Persönlichkeit. Auf der Ebene der Natur sind wir das gleiche Bewusstsein und auf der Ebene der Persönlichkeit erleben wir das gleiche Leid, mit unterschiedlichen Inhalten und Ausprägungen.

Im Geiste jedes Menschen hat sich, im Laufe der Zeit, eine Kernüberzeugung herausgebildet, die ihn, wie eine über ihn gestülpte, unsichtbare Glocke, überallhin begleitet. Sie ist wie ein Empfangsfeld, eine Atmosphäre, in der nur bestimmte Gedanken und Gefühle auftauchen können. Solche, die zu dieser Atmosphäre, die sich, im Laufe des Lebens, zu einer Haltung verdichtet hat, passen.

Meistens ist das ungesehen. Wir erfahren nur, was wir denken und fühlen und halten das für echt, für die Wirklichkeit, für unsere Realität, die doch überall so ist. Nein, ist sie nicht. Als Persönlichkeit handelst Du immer nach Deinen unsichtbaren Überzeugungen, die von irgendwoher stammen, aber nur dort gelten, wo Du bist. Nur Du erfährst Deinen Schmerz, Deine Ängste, Deine Nöte, Deine guten und schlechten Gedanken, Deine offenen oder verdeckten Bedürfnisse. Nur Du erfährst den Blick, den Du in die Welt sendest, Du empfängst das, was das Magnetfeld, das in Dir herrscht, anzieht und ausdrückt.

Wie Maschinen mit Schrauben

Wir sind eingestellt. Wie Maschinen mit Schrauben. Unsere geistige Einstellung ist verantwortlich für das, was wir erfahren.

Es ist die Familie und/ oder die Umgebung, in der wir heranwachsen, die maßgeblich das Welt-und Selbstbild eines Menschen bestimmt. Je nachdem wie viel Raum wir bekommen haben uns selbst ohne Vorbilder und Vorgaben, wie wir zu sein haben, wahrzunehmen, spüren wir uns deutlich oder weniger deutlich. Wenn wir uns weniger deutlich spüren, zählen die Ansichten der Umgebung, die wir internalisieren und an denen wir uns orientieren.

Dann leiden wir unter dem Vater, der Mutter, den Geschwistern, den Verwandten usw. Wir leiden darunter nicht gesehen zu werden, fremdbestimmt zu sein, keinen Raum für eigene Gedanken und Gefühle zu bekommen, keinen Spiegel zu haben für das eigentliche Wunder, das wir sind. Wir werden in Funktionen gepresst, die wir auszufüllen haben, ansonsten drohen Konsequenzen.

Leiden ohne Ende, das ganze Leben  lang …

Mein Stiefvater ist 78 und leidet immer noch unter einem längst verstorbenen despotischen Vater, der ihn in der Kindheit tyrannisiert hat. Mein Stiefvater würde nie auf die Idee kommen, dass er auch andere Möglichkeiten hätte, seine Situation zu sehen. Allein weil diese Idee nicht in ihm auftaucht, hat er auch keine Möglichkeit, von sich aus, sein Leben, sich selbst und seine Vergangenheit aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

Seine Urwunde, die seine individuelle Leidperspektive ist, durch die er sein Leben sieht, die niemals angesehen wurde, niemals zu Bewusstsein gekommen ist – diktiert durch ihre Massivität, durch ihre Dichte, seine Gedanken, seine Gefühle und Handlungen. Da kommt kein Licht durch …

Diesem Menschen auch nur eine Ahnung der Sonne zu vermitteln, die hinter den dunklen Wolken existiert, würde, unter Umständen, sehr lange Zeit, sehr viel Zuhören, sehr viel und regelmäßige Erfahrungen eines offenen Raumes für ihn, so wie er ist, erfordern. Und vor allem anderen: eine innere Notwendigkeit, die sich in ihm selbst zeigt und ausdrückt.

Das Dunkelwesen will Dunkelheit

Denn wenn man nur das Dunkel kennt, bewegt man sich nur im Dunkeln. Man ist ein Dunkelwesen, das nichts anderes als Dunkelheit empfangen will und kann, weil es das Bekannte ist. Jede Helligkeit erzeugt im Dunkelwesen Misstrauen. Hier müsste man zuerst die Augen an Kerzenlicht gewöhnen … ganz langsam …

Sehr oft sind die inneren Strukturen im hohen Alter auch schon so starr und gefestigt, dass es kaum möglich ist daran zu rütteln. Dazu kommt die fehlende geistige und körperliche Energie, die es erfordert eine neue (Lebens)Perspektive zu erfahren. Und doch: Nichts ist unmöglich, wenn man es nicht für unmöglich hält…

Und da, wo bereits Licht durchkommt, kann auch mehr Licht durchkommen.

Die Konzentration auf die beständige Wahrheit in Dir

Es braucht die Konzentration auf das Licht, um es zu vermehren. Wenn wir die Kraft der Aufmerksamkeit in den Themen unserer Urwunde, des Filters, durch den wir die Welt sehen, konzentrieren, erleben wir mehr davon. Wir verschwinden in Schuld, Scham, Unvermögen, Mangel, Wut, Angst, Ekel vor uns selbst usw. Wir verschwinden darin und haben jeden Blick dafür verloren, dass es außerhalb dieser Perspektive noch andere Perspektiven gibt. Das ist ein uraltes menschliches Problem, das schon Platon in seinem Höhlengleichnis darzustellen versucht hat. Wir glauben das, was wir sehen und verlieren den Blick für das Ganze.

Und wann verlieren wir diesen Blick? Wenn wir dem Zweifel an uns selbst, dem Gefühl es besser machen zu müssen, es doch endlich kapieren zu müssen, es endlich schaffen zu müssen, stärker, klüger, kraftvoller, weiser, liebevoller, besser sein zu sollen – glauben.

Dann tut es weh. Doch oftmals muss es so richtig weh tun, damit uns auffällt, was wir uns selbst damit antun …

Komm wieder her …

Und dann komm wieder zu Dir. Lass alles gehen und spüre allein Dein Hiersein. Atme, sieh aus den Augen, bemerke das Licht, spüre die Temperatur auf der Haut, sei da. Sei einfach nur da. Und dann schau mal nach, wo dieses Dasein anfängt und wo es aufhört. Wenn Du nicht denkst: „Ich bin da“, sondern wenn Du nur da bist. Hier. So. Atmend, lauschend, sehend. Seiend. Wie fühlt sich das an?

Wo ist dann die Einstellung? Wo ist der Glaube daran wie Du zu sein hast, damit dieses und jenes in Erfüllung geht und wie die anderen zu sein haben, damit es Dir gut geht? Wo ist das alles hier und jetzt in diesem Augenblick Deines einfachen Daseins? Und wo hört dieser Augenblick auf?

Hier kann gesehen werden, was wir uns antun, wenn wir immer wieder dieselbe Schiene entlang laufen, den selben Gedanken über uns und die Welt glauben und den selben Gefühlen ausgeliefert sind. Tabula Rasa ist angesagt!

Ein kraftvolles: Schluss damit!

Schaffe Licht in Dir, indem Du in das Licht schaust, das in Dir leuchtet. Finde es in der Stille Deiner Gedanken. Nimm Dir die Zeit für Dich. Für Dich allein. Lass es wichtig sein, lass es Bedeutung  haben herauszufinden, was Deine Wirklichkeit ist.

 

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