Nach dem letzten Augenblick - anhören
Ein Blatt fällt vom Baum. Eine Blüte schwebt vom Stempel zu Boden. Das Licht geht aus. Der Atem verstummt und der Blick öffnet sich. Der Moment des Sterbens ist wie ein Ende von Etwas. Das Ende des Lebens. So, wie das Ende der Schulzeit, das Ende der Kindheit, das Ende der Beziehung, das Ende des Frühstücks. Eine Bewegung hört auf.
Eine Bewegung, die einen Anfang und ein Ende hat. Mit der Geburt fängt alles an. Mit dem Tod hört alles auf. Mit der ersten Klasse fängt die Schulzeit an und spätestens mit der 13. Klasse hört sie auf. Eine vollendete Bewegung von vielen Bewegungen, die sich selbst in der Zeit vollenden.
Und doch sind wir es, die Bewegungen sehen und ihren Anfang und ihr Ende definieren. „Wir“ : Perspektiven, die sich ihrer selbst bewusst sind. Blickwinkel in einem einzigen Blick. Milliarden Augen, die um ihr Sehen wissen und ihr jeweils einzigartiges Geschehnis erfahren. Die Vielheit im Einen. Bewegung in der Stille.
Es ist nur eine Spanne von unendlich vielen …
Geburt und Tod und die Strecke dazwischen – ist nur eine Spanne, in der etwas geschieht. Es ist nicht die einzige Spanne, in der etwas geschieht, denn der Blick selbst schaut immer. Die Blicke im Blick verlöschen und entflammen, wie Lichter in der Großstadt. Sie gehen an. Sie gehen aus. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
Doch das Sehen selbst vergeht nie. Weil es nie begonnen hat. Es war schon immer da, weil es nichts anderes außer ihm selbst gibt. Es gibt nur Sehen. Und in diesem sehenden Blick, zeigen sich sehende Blicke, die Dinge sehen, die zu ihrer Perspektive passen.
Die Bewegungen hören nie auf, auch wenn sie scheinbar Zeitabschnitte haben. Deshalb ist auch das Leben nur ein Zeitabschnitt von vielen Möglichkeiten etwas wahrzunehmen. Denn das Leben, Dein Leben, taucht in der Wahrnehmung auf. Im Sehen selbst, das durch Deine Augen blickt. Du siehst Dein Leben und Du wirst gesehen vom Sehen, das sich
selbst betrachtet.
Ein Blick im Blick im Blick im Blick …
Das Leben ist nur eine Station in der Gesamtbewegung der Wahrnehmung. Es gibt verschiedene Arten der Wahrnehmung. Auch außerhalb dieses Lebens. Außerhalb dieser Art der Wahrnehmung. Und auch das ist völlig natürlich, weil es nur die Natur der Natur gibt.
Wir geben diesem Leben und damit dieser Art der Wahrnehmung eine extreme Bedeutung, weil die Bedeutung selbst der Klebstoff zwischen dem Sehen und dieser Form der Wahrnehmung ist, die wir lebendig nennen.
Und genaugenommen tun wir das nicht. Das ist so „eingerichtet“. Dieses Leben ist die Information, die gerade jetzt abgenommen wird. Von wem auch immer. Von dieser Perspektive, mit diesem Namen, der einfach nur hier auftaucht. Wir können dieses Bild niemals verlassen. Selbst nach dem Tod nicht.
Pures Leben
Denn erst nach dem letzten Augenblick dessen, was wir Leben nennen, erwachen wir zu dem, was Leben ist: Pures Sein. Reine, strahlende Anwesenheit. Die Losgelöstheit von Allem, was uns in der lebendigen Perspektive so fest im Griff, so eingenommen hat, so vereinnahmt.
Nach dem letzten Augenblick dessen, was wir Leben nennen, erwachen wir endgültig zu uns selbst als Vollkommenheit, in die wir ganz sanft hineinexplodieren, um ganz langsam, wie ein Fluss mit dem Meer, mit dem Ort zuverschmelzen, in dem kein einziger Gedanke mehr existiert, der uns scheinbar von der Heiligkeit des wahren Lebens trennt.
Wer ist der Sehende, was ist das, was er sieht, und was ist Sehen überhaupt? All das wird uns endgültig nach dem letzten Augenblick dieses Lebens, als Geschenk, offenbart.
Liebe Nicole,
das habe ich gerne gehört. Eine Freundin sagte mal, sie freue sich schon auf das körperlose Leben. Das ist eine schöne Vorstellung. Sich freuen, auf das körperlose Leben. Ja. Damit kann ich auch den wahrnehmungsfähigen Körper annehmen und sogar lieben, der mir erlaubt, zu erleben. Danke für Deine inspirierenden Worte.
Der Raum des Atems, das Zuhause des Atems, da ist Fließen.
🙂
Liebe Nicole, ich finde Deine Texte immer sehr inspirierend – von Herzen Danke. Der heutige erinnert mich an ein Gespräch aus Bioleks Bahnhof, er interviewte eine neunzigjährige (aktuell sehr verliebte) sehr vornehmende Hanseatin, wie sie auf den Tod schaue… Sie richtete sich spontan auf, ihre Aura dehnte sich (für mich gut sichtbar) aus und mit Strahlen sagte sie: Herr Biolek (ich habe ihre freudige Stimme noch im Ohr…): Ich denke jeden Tag vorfreudig an meinen Tod, er ist der Höhepunkt meines erfüllten Lebens. Mir liefen die Tränen, u. ich dachte: O lieber Gott, lass mich das nie vergessen !!! Jetzt bin ich 74 Jahre jung oder alt und bin dankbar, dass Dein Text die Erinnerung in mir wach rief 🙂 🙂 Danke, liebe Nicole, für Dein Sein und Wirken! Johanna
Liebe Johanna, danke Dir sehr für Deinen Kommentar! Ich mochte Bioleks Bahnhof und seine Kochsendungen auch immer
gerne! Ich freu mich, dass der Text diese wertvolle Erinnerung in Dir wachgerufen hat! LG Nicole
Liebe Nicole, wieder ein sehr inspirierender Text, der mich weiter bewegt……herzlichen Dank dafür.
Du schreibst:“
Nach dem letzten Augenblick dessen, was wir Leben nennen, erwachen wir endgültig zu uns selbst als Vollkommenheit, werden reine Anwesenheit, in die wir ganz sanft hineinexplodieren, um ganz langsam, wie ein Fluss mit dem Meer, mit dem Ort zu verschmelzen.“
Das ist sehr poetisch beschrieben und eine schöne Vorstellung.
Ebenso die Vorstellung einer großen Freude beim Erleben des letzten Augenblickes, der dann übergeht in das pure Sein und die reine, strahlende Anwesenheit einleitet.
Meine Frage: Wird unser gelebtes Leben in der Todesstunde auf jeden Fall eine tiefgreifende sehende Erfahrung machen? Werde ICH in meiner Gebundenheit an Geburt und Tod an der Schwelle auf jeden Fall die große Öffnung „erleben“ oder nur vielleicht, wenn ich bewusst und wach genug bei mir bin?
Was ist wenn Menschen zum Beispiel dement sind oder einfach den Tod nicht bewusst erleben, weil sie ihre Todesstunde verschlafen?
liebe Grüße Andreas
Lieber Andreas … spannende Fragen! Was ich sehe (was sollte ich sonst beschreiben können?) ist, dass im Übergang offen/sichtlich wird, dass das, was ist – reine, strahlende Anwesenheit – schon immer ist. Ganz egal, für wen sie sich als Ich-Limitierung hält.
Für sie ist es vollkommen unerheblich ob das die Ich-Limitierung am Ende mitbekommt oder nicht, weil es nur sie gibt. Das, was überflüssig ist (Du, ich …) fällt ab und übrig bleibt, das, was wirklich ist. Für niemanden.
Komischerweise kam hier in den letzten Tagen auch immer Mal die Frage auf, was ist Sehen eigentlich?
Wenn der Fixpunkt, manchmal kein richtiger Fixpunkt mehr ist, ist da einfach nur Sehen.
Vielleicht ist ja Sehen „etwas“ was im Bewusstsein, in dem Moment, einfach als Sehen erscheint. Federleicht.
Aber dann wird sofort klar, daß das einfach nur ein schöner Gedanke ist. Und dann ist lachen 😂
Und was ist Lachen? 😀
Ein Gedanke, ein Wort welches versucht, einen Ausschnitt, aus diesem voll gefüllten kunterbunten weißen leeren Blatt zu beschreiben.
Ja, Marc, das ist wie das Schöpfen aus dem Nichts … 🙂