Das stille Auge des Sturms -anhören

von Nicole Paskow

 

Ich weiß noch, wie ich hinter der Tür gezittert habe. Ich spürte einen tiefen, lauten, pulsierenden Schmerz und wahnsinnige Angst gleichzeitig. Im Wohnzimmer stand mein Vater gerade mit erhobenen Händen vor meiner Großmutter, die auf einem Stuhl saß und sich zusammenkrümmte. Er hatte ihren Gehstock in der rechten Hand. Sie sah zu Boden und sagte immer nur leise: „Bitte, hör damit auf!“ Ich war elf Jahre alt und gerade von seinem Geschrei aufgewacht. Mein Vater und ich sahen uns fast nur in den Ferien, wenn ich ihn in Bulgarien besuchte.

Als ich an diesem Morgen durchs Schlüsselloch spähte, sah ich ihn dort stehen. Wütend, außer sich. Seine Augäpfel wollten aus ihren Höhlen springen und er versprühte Speichel, als er mit zusammengebissenen Zähnen schimpfte. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihn so zornig sah, und jedes Mal spürte ich diese katastrophale Angst.

Er tat ihr nichts. Beruhigte sich. Aber in mir war alles in Aufruhr. Als ich hörte, dass die Tür ins Schloss fiel, rannte ich zu meiner Oma, um sie zu umarmen. Wir weinten dann beide zusammen. Schweigend. Sprachlos. Dann ging der Tag einfach weiter. Ich war noch einige Zeit sehr still, wenn mein Vater auftauchte, selbst wenn er gute Laune hatte. Es war, als könnte etwas in mir ihm nicht mehr vertrauen, und keiner verlor mehr ein Wort über das, was geschehen war …

Überwältigung und Anpassung

Die meisten Menschen kennen solche oder ähnliche Szenen aus ihrer Kindheit oder Jugend. Jedenfalls aus einem Alter, in dem man noch so offen ist, dass man von plötzlichen und unerwarteten Ereignissen den Boden unter den Füßen verliert. Es geht nicht um den Inhalt der Geschichten. Sie sind sehr unterschiedlich, aber was sie verbindet, ist die Überwältigung des gesamten Wesens. Man ist so aus der Fassung, dass sich der Schock, wie ein Stromschlag, in jede Zelle einnistet und sich dort einbrennt.

Dieser traumatische Schock bewirkt nun, dass sich die gesamte Wahrnehmung dementsprechend anpasst. Nun werden wir vorsichtig, verschließen uns ein Stück weit, fangen an zu beobachten und zu kontrollieren. Damit wir nie wieder spüren müssen, was es heißt, von all den Emotionen zutiefst getroffen zu werden, die von solchen Situationen ausgelöst werden. Nicht selten wird ein ganzes Leben von einer einzigen traumatischen Situation bestimmt. Ganz zu schweigen von jenen, die sich wiederholen und zu festen Strukturen erstarren, die einen Menschen völlig in sich selbst gefangen halten können.

Reaktionen auf psychischen Stress

Viele zerbrechen daran. Andere können diese Energien integrieren, und eine weitere Anzahl kann sie ganz hinter sich lassen. Keiner weiß, warum Menschen so unterschiedlich auf diesen psychischen Stress reagieren. Aber es wird daran liegen, dass jeder Mensch ein einzigartiges Wesen ist. Noch nie dagewesen und niemals vollständig identisch reproduzierbar. Jeder Mensch ist anderen Einflüssen ausgesetzt.

Ich habe viele derartige Situationen erlebt, die mich stark beeindruckt haben. Mein Nervenkostüm ist immer noch nervös. Ich war mit acht Jahren bei einem Psychologen, der mir eine grüne und eine orangene Pille verschrieb und mich als emotional überfordert einordnete. Die Pillen sollten mich beruhigen, damit meine Ticks zurückgingen. Mir half nur das Autogene Training, das er mir beibrachte.

Ich mochte daran, dass ich mit mir selbst experimentieren konnte. Ich verlangsamte absichtlich meinen Herzschlag und ließ verschiedene Körperteile warm oder kalt werden. Ich wurde richtig gut darin, meinen Atem zu kontrollieren, und konnte besser einschlafen. Die Tabletten warf ich irgendwann ins Klo.

Selbstheilung und innere Prozesse

Mein ganzes Leben war eine emotionale Achterbahn. Doch nichts interessierte mich mehr als der Mensch und seine Reaktionen auf das, was er erfährt. Ich lernte aus meinen eigenen Reaktionen und aus denen der Menschen um mich herum. Ich lernte aus Büchern, führte Gespräche, litt und heilte wieder und litt und heilte wieder.

Jahrzehntelang. Jeder neue Schock, jeder neue Eindruck ließ mich berührbarer werden für mich selbst. Auch wenn ich mit einem fehlenden Selbstwert zu kämpfen hatte und ich seine Ausläufer immer noch spüre. So wie ich alles immer noch in mir spüre, wovon ich mich immer trennen wollte: Zweifel, Schmerz, Scham, Schwächen, Ängste, Unsicherheiten, innerer Druck. Ich war sicher, dass alles weggehen würde, wenn ich nur verstehen würde, warum das alles da ist und wie ich damit umgehen sollte.

Ich bekam viele Ideen aus der Psychologie geliefert, die vielversprechend waren. Doch nichts half. Ich fühlte immer noch, was ich fühlte. Dann kam die Spiritualität, sie versprach auch etwas. Bleibenden Frieden, wenn ich mein Selbst erkannte. Ich erkannte mein Selbst, aber ich fühlte mich immer noch zu klein, zu eng, zu aufgewühlt. Alles Erkennen blieb im Geist hängen und kam nicht ins Erleben. Etwas Wesentliches fehlte.

Die Öffnung für das, was ist

Das, was fehlte, war eine reine Offenheit für dieses Wesen, das ich bin. Für all diese Regungen, die durch es gingen und mit denen es so sehr zu kämpfen hatte. Ich war für alles offen, nur nicht für meine Gefühle. Die waren immer zu laut, zu groß, zu intensiv, zu raumgreifend. Aber egal, was ich dagegen tat, ich wurde sie nicht los.

Es dauerte lange, bis ich wirklich erfassen konnte, was es bedeutet, mich nicht mehr gegen sie zu wehren. Etwas in mir war immer auf der Suche nach einem besseren Ort als dem, den ich in mir selbst vorfand.

Und genau das war das Problem. Aber anzuhalten und nicht mehr weiterzusuchen, bedeutete auch, aushalten zu müssen, was dann hochkam. Während einer Panikattacke ereignete es sich, dass ich mich plötzlich mittendrin beruhigen konnte, ohne dass die Angst gewichen war. Ich erlebte mich auf einmal als den Raum für die Angst, die genau so bleiben konnte, wie sie war. Ich war das „Drumherum“ um diese Angst. Was für ein enormer Unterschied zu dem Gefühl, mit Panik auf sie zu reagieren!

Der Raum für Emotionen

Das war sehr beeindruckend für mich, weil ich mich nicht von der Angst getrennt fühlte, aber auch nicht von ihr überwältigt. Und mir wurde klar, dass das mit jedem Gefühl möglich war. Ich kann so still werden, dass jedes Gefühl in mir auftauchen kann, wie es will. Als würde ich all den dunklen Wolken in mir ein Bett zum Ausruhen anbieten, öffnete ich mich nach und nach für meine Ängste und Nöte, indem ich mich auf das ausrichtete, was in mir still war.

Ich wusste fortan, dass es nichts gab, was in diesem Raum keinen Platz finden konnte. Dieses Empfinden ist wie ein Hintergrund, der immer da ist, auch wenn ich nicht auf ihn ausgerichtet bin. Ich muss gar nicht auf ihn ausgerichtet sein, weil er immer da ist. Auch ohne meine Aufmerksamkeit. Doch er ist jederzeit ansprechbar.

Es wird still in mir, wenn es emotional laut wird. So dass absolut alles gefühlt werden kann, was sich ausdrücken will. Ich frage schon lange nicht mehr, welches Gefühl woher kommt. Weil es keinen Sinn hat. Es ist egal. Wir können uns bis in alle Ewigkeit mit unseren Geschichten beschäftigen, die wir erlebt haben.

Loslassen der Kontrolle

Es wird uns nichts helfen. Nur wenn man am Anfang steht, scheint es sinnvoll zu sein, zumindest zu sondieren, was überhaupt passiert ist, wie man wirklich reagiert hat und was es ist, das man seither meidet wie der Teufel das Weihwasser. All das, was uns dennoch auf Schritt und Tritt begegnet. Jeder hat immer wieder mit seinen unterdrückten Gefühlen zu kämpfen. Sei es die Scham, die Aggression, die Schuld, der Schmerz, die Traurigkeit, die Leere usw.

Doch irgendwann war für mich nur noch das wichtig, was mir ermöglichte, mich nicht mehr gegen die schwierigen Emotionen zur Wehr zu setzen. Ja, ich wurde wieder überwältigt von Gefühlen, und ja, es kann jederzeit wieder geschehen. Ich habe nichts in der Hand. Es geht nicht um Kontrolle. Es geht darum, dass da etwas ist, das alles auffangen kann, das alles unverzerrt in sich aufnehmen und dasein lassen kann. Ich habe irgendwann angefangen, es das Innerste zu nennen, weil es sich so aus mir selbst herauskommend anfühlt.

Als hätte ich ein inneres Zentrum, das aber keine Grenzen hat. Ich fühle keine Grenzen in mir. Selbst wenn ich Widerstände spüre, gegen was auch immer, sind die Widerstände so rein sie selbst, dass sie einfach nur durch mich hindurchziehen. Da bleibt nichts hängen. Alles dauert seine gewisse Zeit, dann ist der Himmel wieder frei. Bis zu den nächsten Wolken, die vorbeiziehen.

Die Natur des Lebens und der Gefühle

Und so ist der Lauf des Lebens, so ist diese Erfahrung hier als Mensch. Wir erleben jedes erdenkliche Wetter im Innen und im Außen. Jede Beschwerde ist schon der Ausdruck einer Trennung von dem, was sich zeigt. Es geht darum, sich auf alles einzulassen, wie es sich zeigt. Unverzerrt. Offen. Empfangend. Es kann nichts passieren, weil das Empfangende keine Grenzen hat. Es ist für absolut jede Regung offen. Und wie könnte man dies als etwas anderes bezeichnen als: Liebe?

Ich erlebe viele Gefühle und eine hohe Intensität in mir. Der wahre Frieden liegt darin, damit nicht mehr zu kämpfen, selbst wenn ein Kampf geschieht. Ich bin die Durchgangsstation für das ganze Theater, das sich in mir aufführen will. Und sie dürfen alle auftreten. Es hat keinen Sinn, die Tür zu verschließen, denn ich schließe sie vor mir selbst. In Wirklichkeit tut das weh, und nicht der eigentliche Schmerz oder die eigentliche Angst. Es ist die Trennung, die weh tut.

Die Öffnung für alle Energien, die mich besuchen, lässt mich auf das Offensein ausgerichtet sein. Und hier kann ich aus erster Hand bestätigen, dass es mitten im Sturm ein stilles Auge gibt, das sich wie ein Tor in unsere unsagbare Ursprünglichkeit öffnet. Darin verbrennt jede heftige Energie rückstandslos, solange sie brennen darf und nicht durch Ignoranz und Abwehr erstickt wird, um woanders in den Ausdruck zu finden. Vielleicht als Tick, vielleicht als Gewalt gegen sich selbst und andere oder auch als Krankheit. Dieses offene Zentrum ist der Entstehungsort dieses Lebens, das genau so reich, voll und nah ist, wie wir in der Lage sind, es rückhaltlos zu empfangen.

 

 

 

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