Advent-die Zeit der inneren Heimkehr- anhören
Die Adventszeit ist für viele Menschen eine Zeit der Besinnung. Während die Kerzen des Adventskranzes jede Woche ein wenig heller leuchten, symbolisieren sie nicht nur die Annäherung an das Weihnachtsfest, sondern auch die Möglichkeit, selbst innerlich ein Licht zu entzünden. Doch was bedeutet Advent wirklich? Was feiern wir in dieser Zeit? Und wie kann sie eine tiefere, innere Bedeutung erhalten?
Die christliche Bedeutung des Advents
Im Christentum ist der Advent die Zeit der Erwartung der Geburt Jesu Christi. Er wird als das Licht gesehen, das in die Dunkelheit der Welt kommt. Doch Jesus selbst lenkte den Blick nicht nur auf das äußere Licht seiner Ankunft, sondern auf ein Licht, das in jedem Menschen wohnt. Im Lukas-Evangelium sagt er:
„Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ (Lukas 17,21)
Diese Aussage enthält eine tiefgreifende Wahrheit. Sie weist darauf hin, dass das, wonach wir suchen, nicht in der äußeren Welt zu finden ist, sondern in uns selbst. Es ist eine Einladung, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten und zu entdecken, was in uns bereits gegenwärtig ist – das Ich-bin-Bewusstsein.
Dieses Bewusstsein wird auch im Alten Testament deutlich, wo Gott sich Mose in der brennenden Dornbuschvision offenbart und auf Mose‘ Frage nach seinem Namen antwortet:
„Ich bin, der ich bin.“ (2. Mose 3,14)
Mit dieser Antwort weist Gott nicht auf etwas Spezifisches hin, sondern auf das reine Sein, das jenseits aller Begrenzungen liegt. Es ist eine Aussage, die nicht nur Gott beschreibt, sondern das Wesen des Bewusstseins selbst.
Was ist das „Ich-bin-Bewusstsein“?
Das „Ich-bin-Bewusstsein“ ist kein Gedanke und keine Vorstellung, sondern die stille Präsenz, die allem zugrunde liegt. Es ist das Bewusstsein, das in der Lage ist, alles wahrzunehmen, was geschieht – Gedanken, Gefühle, Sinneseindrücke, ja sogar das Gefühl eines „Ichs“, das denkt und fühlt, erscheinen in diesem Bewusstsein.
Das „Ich bin“ ist dabei nicht etwas, das wir erreichen oder erlangen können. Es ist das, was wir bereits sind. Der Satz „Ich bin, der ich bin“ drückt aus, dass dieses Bewusstsein zeitlos und unveränderlich ist. Es ist die Essenz, die in allem existiert und gleichzeitig nichts besitzt.
Dieses Bewusstsein ist wie ein klarer Spiegel, in dem die Welt als Spiegelbild erfahren wird. Der Spiegel selbst ist jedoch nicht Teil der Erscheinungen, die er reflektiert. Er ist einfach da – offen, weit, empfangsbereit. Alles, was geschieht, wird in ihm widergespiegelt, ohne dass der Spiegel selbst davon berührt wird.
Das Bewusstsein, das wir alle in uns tragen, ist eine grenzenlose Offenheit. Es ist weder persönlich noch begrenzt. Es ist wie ein unendlicher Raum, in dem alles erscheinen und wieder verschwinden kann.
Wenn wir innehalten und diesem Raum Aufmerksamkeit schenken, können wir erkennen, dass er völlig urteilsfrei ist. Er bewertet nicht, was in ihm auftaucht. Ein Gedanke wird nicht als besser oder schlechter angesehen als ein Gefühl. Ein Schmerz wird nicht verurteilt, sondern einfach wahrgenommen. In dieser Offenheit liegt eine immense Freiheit: die Freiheit, die Dinge so sein zu lassen, wie sie sind.
Der Spiegel und die Klarheit der Wahrnehmung
Je klarer der „Spiegel“ unseres Bewusstseins ist, desto unverzerrter können wir die Welt wahrnehmen. Oft jedoch ist dieser Spiegel durch Urteile, Ängste oder alte Konditionierungen getrübt. Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern durch die Filter unserer Vorstellungen und Bewertungen.
Doch diese Trübungen können sich lösen, wenn wir lernen, uns dem reinen Wahrnehmen hinzugeben. In der Stille des Bewusstseins verbrennen all diese Urteile wie trockenes Holz in einem reinigenden Feuer. Das Feuer ist nichts anderes als die Liebe, die das Bewusstsein selbst ist. Diese Liebe erlaubt allem, da zu sein, so wie es ist. Sie verlangt keine Veränderung, keine Verbesserung, kein anderes „Ich“.
Gefühle in der Liebe des Bewusstseins
In dieser Liebe können selbst die intensivsten Gefühle – Schmerz, Angst, Wut, Trauer – sich auflösen. Das bedeutet nicht, dass sie verschwinden müssen. Vielmehr werden sie in ihrem Kern erkannt: als Erscheinungen im Raum des Bewusstseins.
Wenn wir uns erlauben, ein Gefühl voll und ganz zu erfahren, ohne es zu analysieren oder abzulehnen, beginnt es sich zu wandeln. Jedes Gefühl, das in dieser Offenheit empfangen wird, findet seinen Platz und verbrennt in der Liebe, die alles durchdringt. Es ist, als würde ein Schatten sich auflösen, sobald das Licht auf ihn fällt.
Das Christusbewusstsein: Die Liebe, die alles umfasst
Dieses Bewusstsein, das wir entdecken können, ist keine neue Errungenschaft. Es ist immer da gewesen. Es ist das, was in der christlichen Tradition als „Christusbewusstsein“ bezeichnet wird. Das Christusbewusstsein ist die Erkenntnis, dass wir Teil einer unendlichen Liebe sind, die alles umfasst. Diese Liebe ist nicht sentimental oder emotional. Sie ist die Essenz unseres Seins.
Alles, was wir wahrnehmen – die Welt, andere Menschen, unsere eigenen Gedanken und Gefühle – taucht in dieser Liebe auf. Es gibt nichts, das davon ausgeschlossen wäre.
Der Advent als Symbol für die innere Entdeckung
Die Adventszeit kann uns daran erinnern, diese Liebe in uns zu entdecken. Sie lädt uns ein, still zu werden und zu erkennen, dass wir nicht unsere Gedanken, unsere Gefühle oder unsere äußeren Umstände sind. Wir sind der Raum, in dem all dies erscheint. Und dieser Raum ist reine Präsenz, reines Dasein.
Das ist die Perspektive, die den Advent für mich persönlich bedeutungsvoll macht: nicht als äußere Vorbereitung auf ein Fest, sondern als innere Reise. Es ist eine Einladung, die Perspektive vom persönlichen Ich-Empfinden hin zum unpersönlichen Dasein zu wechseln.
Die perspektivlose Perspektive
In diesem Dasein gibt es keine Perspektive im herkömmlichen Sinn. Es ist eine „perspektivlose Perspektive“, die alles umfasst, ohne sich in etwas zu verlieren. Das Persönliche wird dabei nicht abgelehnt, sondern als ein Ausdruck des Lebens selbst erkannt – wie ein weiterer Aspekt des Wetters, das erscheint und vergeht.
Die Vereinigung von Mensch und Gott, wie sie in der christlichen Tradition beschrieben wird, ist für mich nichts anderes als diese Erkenntnis: Das, was wir sind, ist nicht getrennt von dem, was ist. Es ist nicht getrennt von der Liebe, die alles trägt.
Warum ist diese Erkenntnis so kraftvoll?
Diese Erkenntnis hat Menschen über Jahrtausende inspiriert, weil sie etwas in uns anspricht, das über das Persönliche hinausgeht. Sie zeigt uns, dass wir nicht in unseren Gedanken und Gefühlen gefangen sein müssen. Wir können uns selbst als das erkennen, was alles wahrnimmt, ohne je davon berührt zu werden.
Es ist dem Menschen bestimmt, zu diesem Selbst zu erwachen – nicht zu einem „Ich“, das sich abgrenzt, sondern zu einem Selbst, das weiß, dass es alles umfasst. Dieses Erwachen ist keine intellektuelle Erkenntnis, sondern eine direkte Erfahrung. Es ist ein Heimkehren zu dem, was wir immer schon sind.
Die Einladung des Advents
In der Adventszeit können wir innehalten und uns auf diese Wahrheit besinnen. Es ist eine Zeit, in der wir den Fokus nicht nur auf äußere Lichter und Feiern richten, sondern auf das innere Licht, das immer in uns leuchtet. Dieses Licht ist nicht getrennt von der Welt, sondern der Raum, in dem sie erscheint.
Das „Reich Gottes ist inwendig in uns“ und die Worte Gottes „Ich bin, der ich bin“ sind nicht nur religiöse Wahrheiten, sondern universelle Einladungen. Sie bieten die Möglichkeit, das Leben in seiner Ganzheit zu erfahren – nicht durch Kontrolle oder Vermeidung, die meist eine Suche nach Halt in der Welt sind, sondern durch die Offenheit, die das Bewusstsein selbst ist.
Möge diese Adventszeit eine Zeit der inneren Heimkehr sein. Eine Zeit, in der wir die Liebe entdecken, die alles umfasst, und uns selbst als den Raum erkennen, in dem alles erscheint.
Wunderbarer Text! Besonders zum Anhören. Danke Dir, liebe Nicole
Liebe Grüße von Nina
Ich bin nicht religiös, dennoch ist der Text sehr erhellend. Danke für die Interpretation, sie ist sehr schlüssig, finde ich. Danke auch, dass Du Deine Texte immer einliest! Ich finde das sehr hilfreich und höre immer gerne zu! Eine schöne Adventszeit für Dich!
Herzlichen Dank!
Wunderschön zu lesen und hören.
Alles Liebe für dich, liebe Nicole!