Wenn man Menschen wirklich sieht - anhören

von Nicole Paskow

Es gibt Momente, in denen der Blick fast zu klar wird.
Man steht da, zwischen Nähe und Distanz, und erkennt plötzlich, dass jeder Mensch durch seinen eigenen Filter sieht – gefärbt von Erfahrungen, Verletzungen, Hoffnungen, kleinen und großen Täuschungen, die sich zu einem Weltbild verdichtet haben. Und während man zuhört, beginnt man zu spüren, wie wenig der andere eigentlich hört. Wie er spricht, um sich selbst zu bestätigen. Wie seine Augen nicht wirklich aufnehmen, sondern suchen, was sie schon kennen.

Dann ist da dieses stille Wissen: Jeder Mensch sieht durch sich selbst. Kein Blick ist neutral, kein Wort ohne Geschichte. Und mit diesem Wissen wird es still in einem, manchmal auch leer. Früher war da noch das romantische Flirren, das Versprechen, dass zwei sich finden können, dass etwas Verschmolzenes möglich ist, eine Art Wiedererkennen, das alle Distanz aufhebt. Doch wer so tief sieht, verliert die Illusion von Verschmelzung. Es bleibt das Sehen selbst – scharf, wach, zärtlich und zugleich unendlich einsam.

Der Himmel der Projektion

In der Vergangenheit war es einfacher. Da gab es das süße Fallen, das Vertrauen in den Rausch der Nähe. Man war bereit, sich aufzulösen, glaubte, das Gegenüber sei ein Zuhause, und fand sich plötzlich wieder in der eigenen Sehnsucht, die sich selbst umarmt hatte. Das Licht, das den anderen so strahlen ließ, war das eigene. Die Tiefe, die man in ihm erkannte, war die eigene Tiefe, gespiegelt und zurückgeworfen. Und wenn er ging, wenn er seine Schatten zeigte, fiel man aus einem Himmel, der nie wirklich existierte, der nur in der eigenen Wahrnehmung geleuchtet hatte.

Die stille Ernüchterung

Dann kommt eine andere Art von Ernüchterung, die nicht bitter ist, sondern still. Ein Erwachen, das keinen Applaus braucht. Man erkennt, dass kaum jemand wirklich sehen kann, solange er in den Nebeln des eigenen Unbewussten lebt. Und etwas in einem wird ruhig. Vielleicht auch schwer. Es ist kein Verlust der Liebe – es ist viel mehr ein Verlust der kindlichen Hoffnung, endlich erkannt zu werden.

Und doch bleibt etwas – eine Sehnsucht, die nicht verschwindet, obwohl sie ihre Täuschungen verloren hat. Sie ist weicher geworden, weniger fordernd, aber sie brennt noch immer: das Verlangen nach einem Gegenüber, das präsent bleibt, wenn man sich zeigt.

Die Liebe nach dem Erwachen

Menschen, die durch diese Schicht gegangen sind, lieben auf eine andere Weise. Sie wissen, dass Begegnung nie vollständig ist. Dass der andere ein eigenes Universum ist, das sich nur für Sekunden mit dem eigenen überschneidet. Sie haben gelernt, die Unvollkommenheit auszuhalten, ohne sie gleich verbessern zu wollen. Sie bleiben da, wo früher Flucht gewesen wäre. Und in diesem Bleiben geschieht Nähe als Gegenwärtigkeit anstatt als Verschmelzung.

Es ist eine Liebe, die keine Spiegel mehr braucht, weil sie selbst Spiegel ist. Sie erkennt die Risse, die Ängste, das Zucken im Blick – und sieht hindurch. Nicht darüber hinweg, sondern hindurch. So entsteht Mitgefühl, das nichts beschönigt und nichts fordert. Man bleibt, weil man weiß, dass das, was man im anderen wahrnimmt, nichts über die eigene Wahrheit sagt, und trotzdem berührt.

Diese Liebe ist leiser. Sie atmet in längeren Zügen. Sie besteht nicht aus Versprechen, sondern aus kleinen Gesten, die fast unsichtbar sind – ein Satz, ein Blick, eine Gegenwart, die bleibt, auch wenn Worte nichts mehr ausrichten. Sie ist die Liebe derer, die aufgehört haben, sich zu verlieren, und doch nicht aufgehört haben, sich zu öffnen.

Wenn Nähe still wird

Wer so sieht, lernt, Menschen zu lieben, obwohl sie unklar sind. Vielleicht gerade deswegen. Weil man weiß, dass in jedem Nebel ein Stück Himmel versteckt ist, das erst sichtbar wird, wenn man nicht mehr auf Sonne besteht.

Und dann, manchmal, begegnen sich zwei, die diesen Weg gegangen sind. Es geschieht unspektakulär, fast beiläufig. Kein Feuerwerk, kein Taumel, eher ein Innehalten. Zwei Wesen, die wissen, dass sie sich nie ganz erkennen werden, und trotzdem da bleiben. Zwischen ihnen fließt kein Begehren, das etwas beweisen muss, es fließt eine Art Stille, die sich ausdehnt. Es geht um Wachheit und Echtsein. Und in dieser Stille entsteht ein Frieden, der nichts fordert.

Der Schmerz als Schwelle

Doch bevor diese Form von Liebe möglich wird, muss die frühere zerbrechen. Die kindliche, die sich nach Verschmelzung sehnt, die alles will und sich dabei verliert. Das Loslassen dieser Liebe ist schmerzhaft – weil man mit ihr die alte Hoffnung verliert, dass jemand das Loch in einem füllen könnte. Aber dieser Schmerz ist kein Ende. Er ist eine Geburt. Er zeigt, dass man bereit ist, den anderen nicht länger als Beweis der eigenen Ganzheit zu benutzen.

Menschen, die das einmal verstanden haben, erkennen sich selbst in allem, was sie sehen. Sie hören auf, die Welt zu korrigieren. Sie hören auf, Liebe zu verwechseln mit Zustimmung. Sie hören auf, sich zu erklären. Etwas in ihnen weiß: Man kann gleichzeitig lieben und klar bleiben. Man kann erkennen, wo der andere blind ist, und trotzdem verbunden sein.

Die Weite des Menschlichen

Vielleicht ist das die Reife, von der alte Schriften sprechen. Dabei geht es nicht um einen Endzustand, es geht um eine Haltung. Eine Art von Frieden, die nicht entsteht, weil das Leben einfacher geworden wäre, sondern weil man aufgehört hat, es anders haben zu wollen.

Dann steht man da, mitten im Menschlichen, und sieht: da sind immer noch Filter, Themen, Geschichten. Aber etwas in einem schaut hindurch. Es geht nicht mehr darum, zu entlarven, sondern zu umfassen. Es gibt kein Draußen mehr, kein Drinnen, keine Trennung zwischen denen, die sehen, und denen, die nicht sehen. Es gibt nur dieses sanfte, wissende Herz, das in allem denselben Pulsschlag erkennt.

Das ist der Punkt, an dem Bewusstsein menschlich wird. Wenn Klarheit und Wärme sich nicht länger ausschließen. Wenn man nicht mehr urteilt, dass Menschen unklar sind, sondern begreift, dass ihre Unklarheit der Stoff ist, aus dem Nähe überhaupt erst möglich wird.

Und dann, in einem dieser ganz gewöhnlichen Augenblicke, wenn niemand hinsieht und nichts Bedeutendes passiert, kann es geschehen: Jemand steht vor einem, müde, abwesend, vielleicht auch verschlossen – und plötzlich ist alles sichtbar. Das Schöne und das Unfertige, die Angst und das Licht dahinter. Und für einen Moment öffnet sich etwas im Inneren, ein stilles, weites Ja. Kein Gedanke, keine Analyse. Nur dieser eine Satz, der fast von selbst entsteht:
Auch das ist Liebe.

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In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.

Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.