Wenn man Menschen wirklich sieht - anhören
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Es gibt Momente, in denen der Blick fast zu klar wird.
Man steht da, zwischen Nähe und Distanz, und erkennt plötzlich, dass jeder Mensch durch seinen eigenen Filter sieht – gefärbt von Erfahrungen, Verletzungen, Hoffnungen, kleinen und großen Täuschungen, die sich zu einem Weltbild verdichtet haben. Und während man zuhört, beginnt man zu spüren, wie wenig der andere eigentlich hört. Wie er spricht, um sich selbst zu bestätigen. Wie seine Augen nicht wirklich aufnehmen, sondern suchen, was sie schon kennen.
Dann ist da dieses stille Wissen: Jeder Mensch sieht durch sich selbst. Kein Blick ist neutral, kein Wort ohne Geschichte. Und mit diesem Wissen wird es still in einem, manchmal auch leer. Früher war da noch das romantische Flirren, das Versprechen, dass zwei sich finden können, dass etwas Verschmolzenes möglich ist, eine Art Wiedererkennen, das alle Distanz aufhebt. Doch wer so tief sieht, verliert die Illusion von Verschmelzung. Es bleibt das Sehen selbst – scharf, wach, zärtlich und zugleich unendlich einsam.
Der Himmel der Projektion
In der Vergangenheit war es einfacher. Da gab es das süße Fallen, das Vertrauen in den Rausch der Nähe. Man war bereit, sich aufzulösen, glaubte, das Gegenüber sei ein Zuhause, und fand sich plötzlich wieder in der eigenen Sehnsucht, die sich selbst umarmt hatte. Das Licht, das den anderen so strahlen ließ, war das eigene. Die Tiefe, die man in ihm erkannte, war die eigene Tiefe, gespiegelt und zurückgeworfen. Und wenn er ging, wenn er seine Schatten zeigte, fiel man aus einem Himmel, der nie wirklich existierte, der nur in der eigenen Wahrnehmung geleuchtet hatte.
Die stille Ernüchterung
Dann kommt eine andere Art von Ernüchterung, die nicht bitter ist, sondern still. Ein Erwachen, das keinen Applaus braucht. Man erkennt, dass kaum jemand wirklich sehen kann, solange er in den Nebeln des eigenen Unbewussten lebt. Und etwas in einem wird ruhig. Vielleicht auch schwer. Es ist kein Verlust der Liebe – es ist viel mehr ein Verlust der kindlichen Hoffnung, endlich erkannt zu werden.
Und doch bleibt etwas – eine Sehnsucht, die nicht verschwindet, obwohl sie ihre Täuschungen verloren hat. Sie ist weicher geworden, weniger fordernd, aber sie brennt noch immer: das Verlangen nach einem Gegenüber, das präsent bleibt, wenn man sich zeigt.
Die Liebe nach dem Erwachen
Menschen, die durch diese Schicht gegangen sind, lieben auf eine andere Weise. Sie wissen, dass Begegnung nie vollständig ist. Dass der andere ein eigenes Universum ist, das sich nur für Sekunden mit dem eigenen überschneidet. Sie haben gelernt, die Unvollkommenheit auszuhalten, ohne sie gleich verbessern zu wollen. Sie bleiben da, wo früher Flucht gewesen wäre. Und in diesem Bleiben geschieht Nähe als Gegenwärtigkeit anstatt als Verschmelzung.
Es ist eine Liebe, die keine Spiegel mehr braucht, weil sie selbst Spiegel ist. Sie erkennt die Risse, die Ängste, das Zucken im Blick – und sieht hindurch. Nicht darüber hinweg, sondern hindurch. So entsteht Mitgefühl, das nichts beschönigt und nichts fordert. Man bleibt, weil man weiß, dass das, was man im anderen wahrnimmt, nichts über die eigene Wahrheit sagt, und trotzdem berührt.
Diese Liebe ist leiser. Sie atmet in längeren Zügen. Sie besteht nicht aus Versprechen, sondern aus kleinen Gesten, die fast unsichtbar sind – ein Satz, ein Blick, eine Gegenwart, die bleibt, auch wenn Worte nichts mehr ausrichten. Sie ist die Liebe derer, die aufgehört haben, sich zu verlieren, und doch nicht aufgehört haben, sich zu öffnen.
Wenn Nähe still wird
Wer so sieht, lernt, Menschen zu lieben, obwohl sie unklar sind. Vielleicht gerade deswegen. Weil man weiß, dass in jedem Nebel ein Stück Himmel versteckt ist, das erst sichtbar wird, wenn man nicht mehr auf Sonne besteht.
Und dann, manchmal, begegnen sich zwei, die diesen Weg gegangen sind. Es geschieht unspektakulär, fast beiläufig. Kein Feuerwerk, kein Taumel, eher ein Innehalten. Zwei Wesen, die wissen, dass sie sich nie ganz erkennen werden, und trotzdem da bleiben. Zwischen ihnen fließt kein Begehren, das etwas beweisen muss, es fließt eine Art Stille, die sich ausdehnt. Es geht um Wachheit und Echtsein. Und in dieser Stille entsteht ein Frieden, der nichts fordert.
Der Schmerz als Schwelle
Doch bevor diese Form von Liebe möglich wird, muss die frühere zerbrechen. Die kindliche, die sich nach Verschmelzung sehnt, die alles will und sich dabei verliert. Das Loslassen dieser Liebe ist schmerzhaft – weil man mit ihr die alte Hoffnung verliert, dass jemand das Loch in einem füllen könnte. Aber dieser Schmerz ist kein Ende. Er ist eine Geburt. Er zeigt, dass man bereit ist, den anderen nicht länger als Beweis der eigenen Ganzheit zu benutzen.
Menschen, die das einmal verstanden haben, erkennen sich selbst in allem, was sie sehen. Sie hören auf, die Welt zu korrigieren. Sie hören auf, Liebe zu verwechseln mit Zustimmung. Sie hören auf, sich zu erklären. Etwas in ihnen weiß: Man kann gleichzeitig lieben und klar bleiben. Man kann erkennen, wo der andere blind ist, und trotzdem verbunden sein.
Die Weite des Menschlichen
Vielleicht ist das die Reife, von der alte Schriften sprechen. Dabei geht es nicht um einen Endzustand, es geht um eine Haltung. Eine Art von Frieden, die nicht entsteht, weil das Leben einfacher geworden wäre, sondern weil man aufgehört hat, es anders haben zu wollen.
Dann steht man da, mitten im Menschlichen, und sieht: da sind immer noch Filter, Themen, Geschichten. Aber etwas in einem schaut hindurch. Es geht nicht mehr darum, zu entlarven, sondern zu umfassen. Es gibt kein Draußen mehr, kein Drinnen, keine Trennung zwischen denen, die sehen, und denen, die nicht sehen. Es gibt nur dieses sanfte, wissende Herz, das in allem denselben Pulsschlag erkennt.
Das ist der Punkt, an dem Bewusstsein menschlich wird. Wenn Klarheit und Wärme sich nicht länger ausschließen. Wenn man nicht mehr urteilt, dass Menschen unklar sind, sondern begreift, dass ihre Unklarheit der Stoff ist, aus dem Nähe überhaupt erst möglich wird.
Und dann, in einem dieser ganz gewöhnlichen Augenblicke, wenn niemand hinsieht und nichts Bedeutendes passiert, kann es geschehen: Jemand steht vor einem, müde, abwesend, vielleicht auch verschlossen – und plötzlich ist alles sichtbar. Das Schöne und das Unfertige, die Angst und das Licht dahinter. Und für einen Moment öffnet sich etwas im Inneren, ein stilles, weites Ja. Kein Gedanke, keine Analyse. Nur dieser eine Satz, der fast von selbst entsteht:
Auch das ist Liebe.
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.

Ja!
Wie kraftvoll so ein einzelnes Ja! Dastehen kann! 😀 LG Nicole
Stille, Resonanz, nochmal und nochmal lesen und nochmal lesen – Stille, Öffnung, Weite, Leere im Blick, Tiefe ohne Versprachlichung, Stille, Ruhe, Friede – danke.
Liebe Nicole wunderschöne Worte und tiefe Erkenntnisse, die mich in meinem Innersten sehr berührt haben.
Wie sehen diese Erkenntnisse in meinem eigenen Leben aus – wie lebe ich damit?
Wie können wir Menschen sehen und lieben?
Wir erfahren Sehnsucht nach Verschmelzung nach Einssein und Liebe in unseren Liebesbeziehungen. Es gibt auch Momente der Erfüllung.
Jesus sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“
Was heißt das für mich – für mein Leben im Alltag? Heißt das:, Liebe deinen Nachbarn mit dem du in Konflikt stehst. Liebe deine Schwester, die du als maßlos egoistisch empfindest. Wie gehe ich damit um, wenn sich Konflikte in endlosen, inneren Dialog- Schleifen in meinem Bewusstsein fortsetzen. Will ich diese quälenden inneren Dialoge einfach nur loswerden? Nutze ich meinen Verstand um die Situation und die Hintergründe zu analysieren und Verständnis für meinen Nächsten aufzubringen?
Ich sehe einfach, dass ich es bin, der mit seinen eigenen inneren Spannungen und eingeschlossenen Energien konfrontiert ist. Im einfachen offenen stillen Sehen erscheint Mitgefühl mit mir selbst, mit der Situation, mit den Menschen.
Ich als Mensch muss nicht meinen Nachbarn lieben.
In alltäglichen Situationen, die ich als Provokation empfinde, werde ich wütend, irrational, laut …warum nicht? Das ist einfach jetzt meine Lebensenergie – wieder gut noch verwerflich. Fließende Energie belastet mich nicht.
Die folgenden kreisenden Gedankenschleifen sind lästig und verbrauchen mein Lebensenergie. Auch das erscheint in meinem Bewusstsein, das kann ich sehen – immer wieder ohne Bewertung. Das Leben fließt weiter durch mich durch.
Einfaches Sehen im stillen Raum ist nicht getrennt von Liebe. Liebe zu mir selbst und Mitgefühl zu meinem Mitmenschen. Mitgefühl und Liebe schließt Streit und Auseinandersetzung nicht aus.
Diese Liebe ist kein Gefühl.
Diese Liebe und dieses Mitgefühl sind einfach das Wesen der Stille.
Lieber Johannes,
ja, genau das ist der Punkt:
Nicht versuchen, etwas Bestimmtes zu fühlen oder zu erreichen – sondern sehen, was geschieht.
Wenn Wut da ist, ist Wut da. Wenn Ruhe da ist, ist Ruhe da.
Bewusstsein unterscheidet nicht zwischen beidem.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ beschreibt keinen moralischen Anspruch, sondern ein Sehen ohne Trennung.
In diesem Sehen löst sich die Frage, wie man lieben soll, von selbst.
LG, Nicole
🙂
Liebe ist bedingungslos und das fängt hier an.
Man erfährt dann ganz schnell , wenn man sich, oder das Umgebende Feld nur unter bestimmten Bedingungen annehmen kann.
Das ist der Krieg ums kriegen, oder nicht kriegen.
Ja, Christine, wer kriegt hier was? 😉 Die Bedingungslosigkeit fängt immer bei einem selbst an…LG Nicole
Hier ist immer bei mir selbst, wo könnte denn sonst wahrgenommen werden. Mit-kriegen meinte ich, den Positionswechsel wahrnehmen, den man einnehmen kann.
Ein Ja, ist immer ein Türöffner, weil sich dann Möglichkeiten bereiten und man schon willens ist sie wahrzunehmen.
Nicht immer aber immer öfters.
LG Christine
Liebe Christine, das ist wunderbar gut gesehen: „Ein Ja, ist immer ein Türöffner, weil sich dann Möglichkeiten bereiten und man schon willens ist sie wahrzunehmen.“
Das Ja ist bereits die Öffnung und der Wille wahrzunehmen. Dann ist es schon passiert. In der Offenheit liegt alles! LG Nicole
j a a a !!!
so schaut das gelobte, geliebte Land meiner Sehnsucht- gewoben aus Stille und voller Lebendigkeit-aus.
Diese Worte hänge ich mir als Decke aus feinster Wolle um: sie wärmt mich in allen Lebenslagen und zaubert mir in jedem Augenblick ein stilles Lächeln auf die Lippen wie immer er auch sei.
ich freu mich so!
ich beDANKE mich aus tiefstem Herzen für dieses Geschenk, NICOLE
Liebe Maja, danke für Deinen schönen Kommentar! 🙂