Empfindsamkeit ist eine subtile Kraft, die die Fähigkeit zur Verbundenheit und zu einem tiefen Verstehen für die Welt um uns herum verkörpert. Sie birgt in sich eine völlige Offenheit und eine Empfänglichkeit für die Erfahrungen, die wir täglich machen. Empfindsamkeit geht über einfache Sensibilität hinaus; sie ist eher eine spirituelle und emotionale Eigenschaft, die uns dazu ermutigt, uns dem Leben mit offenen Sinnen zu nähern und uns für die Schönheit und ebenso für das Leid, das es bietet, zu öffnen.

Empfindsamkeit ist eine innere Qualität, die es uns ermöglicht, die Welt um uns herum mit einem fühlenden Herzen und einem wachen Geist zu betrachten. Es ist die Fähigkeit, haarfeine Nuancen und Facetten in unseren Beziehungen, in der Natur und in uns selbst wahrzunehmen. Wenn wir empfindsam sind, sind wir offen für unsere eigenen Regungen und auch für die Emotionen anderer Menschen, für Freude und auch für Schmerz.

Wir erkennen die Schönheit in den winzigen Dingen des Lebens – im Lauf eines Käfers über ein Blütenblatt, im Staunen über die Zartheit einer frisch erwachten Frühlingsblüte oder in der atemlosen Gegenwärtigkeit eines unerwarteten Momentes der Stille.

Die Verschmelzung mit der Welt

Diese Feinsinnigkeit erlaubt es uns, uns mit der Welt zu verweben, darin einzutauchen und wahrzunehmen wie reich die kleinsten Regungen in uns selbst als Spiegelung der Welt um uns herum erscheinen, oder umgekehrt – wie sich unsere feinste Wahrnehmung der Welt so nah in uns abbildet, dass wir mit ihr zu verschmelzen scheinen.

Wirkliche Empfindsamkeit erfordert das Bekenntnis zur Verletzlichkeit, zu einer tiefen, unerklärlichen Berührbarkeit, ohne schützende Gedanken, die stets zur Stelle sind, um uns die Welt und unsere Reaktionen zu erklären. Alles nur, damit wir nicht überwältigt werden von einem Gefühl. Sie erfordert, dass wir uns unserer eigenen Emotionen überhaupt bewusstwerden und sie fühlen, ohne sie zu verurteilen oder zu unterdrücken.

In diesem Zartgefühl sind wir hellwach, wie die Fühler einer Nacktschnecke, die nur lauschen und fühlen, vollkommen auf Empfang eingestellt. Oft sind es unsere rasend schnell einlaufenden Urteile, die verhindern, dass wir unsere menschlichen Möglichkeiten wahrzunehmen, vollends ausschöpfen können.

Kein Tun – nur Sehen

Wir können es nicht willentlich tun, uns die Wahrnehmung, wie sie ohnehin durch uns geschieht, bewusst zu erlauben. Wir können es nicht aktiv tun – uns für die umweglose, schutzlose, direkte Erfahrung zu öffnen, wenn der Riegel der Urteile uns das verbietet. Wir können nur einsehen, wenn dieses Einsehen denn geschieht, dass es um eine Durchlässigkeit geht, die nichts mit den üblichen Kategorien von Richtig und Falsch zu tun hat.

In genau dieser inneren Transparenz kann sie aufblühen, diese feingestimmte Sensibilität, die eng mit der Hilflosigkeit verwandt ist. Dann spüren wir vielleicht, wie zerbrechlich alles ist, wie fein gewebt – so fein sogar, wie Träume gewebt sind, die aus einem dunklen Irgendwo der Nacht auftauchen und in ein helles Irgendwo des Tages zu verschwinden scheinen.

Wer ist es, der sie ersinnt? Wer ist es, der sie sieht, wenn wir doch schlafen? Wer schläft da ein? Und wer wacht da auf? All dies sind Fragen aus der Empfindsamkeit, die keiner Antwort bedürfen. Zumindest keiner Antwort, die man mit Worten formulieren kann. Denn im fühlenden Lauschen kommt eine andere Art von Gewissheit zu uns, eine erweiterte Perspektive, die aus der Verbindung unserer freien Sinnlichkeit mit der Offenheit unseres wachen Geistes erblüht.

Geschenke des Menschseins

Es sind diese Art Geschenke, die unser Menschsein für uns bereithält, wenn eingesehen ist, dass uns der kleinkarierte Raum des Wollens und Nichtwollens, des Richtig – und Falschseins, der felsenfesten Meinungen und absoluten Gewissheiten nur in den Möglichkeiten unserer Wahrnehmung behindert.

Ja, dann sehen wir ein, dass wir wirklich traumatisierte Wesen sind, die auf unterschiedlichste Art noch nie von einem anderen Menschen so wahrgenommen wurden, wie sie es sich gewünscht haben. Und dass wir dadurch sehr verletzliche Wesen sind, die sich panzern müssen, weil wir eine riesige Angst haben vor echten, großen und tiefen Gefühlen, die einfach hilflos und ohnmächtig machen, und die uns so sehr zu bedrohen scheinen.

Und wir fühlen diese Verletzlichkeit, diese Zerbrechlichkeit in uns, die Ungewissheit und die Sehnsucht danach zu lieben und geliebt zu werden, zu erschaffen und aufzubauen und so zu leben, wie es das Leben eben tut.

Und dadurch nehmen wir uns selbst zum ersten Mal wirklich wahr, voller Mitgefühl, distanzlos, freundlich und heil. All die komplizierten Regungen, die Widersprüche, die gegensätzlichen Bestrebungen … all das darf da sein in unserem Empfinden. Diese Weitung öffnet uns für unser Dasein, das wir auf einmal empfinden und eben nicht nur denken.

Über uns hinaus …

Dann fühlen wir, wie es über unsere enge Menschlichkeit hinausgeht und uns einen Einblick schenkt in etwas, das nur mit den zarten Fühlern unserer offensten Sinne erfahren, aber niemals mit der Grobheit, die in jedem noch so poetischen Wort liegt, beschrieben werden kann.

Jenseits von Begriffen und Worten, die so wichtig für uns sind, um uns überhaupt wahrzunehmen als (in)formierte Menschen, liegt ein Bereich, der genau so zu uns gehört, wie all die Konzepte und Systematisierungen, die wir so oft mit dem Leben selbst verwechseln.

Dieser Bereich ist das wahre Geschenk unseres Menschseins, er offenbart uns die unvergängliche Schönheit des Daseins selbst, ganz egal, wie es sich äußert. Ob als kleiner Marienkäfer, der eine Fingerspitze als Absprungrampe benutzt oder als gewaltbereiter Straftäter, der seinen Selbsthass in der Welt gespiegelt sieht, gegen die er voll blinder Bosheit angeht – so ist das Dasein.

Die Bereitschaft alles (in sich selbst) zu erfahren

Nur etwas, das bereit ist, alles zu erfahren, was ins Erleben tritt, kennt weder Abgrenzung noch Angst. Es ist so empfindsam für alles, auch für die schlimmsten Gefühle, auch für die herrlichsten Erfahrungen, auch für die unerhörtesten und verstecktesten inneren Regungen.

Jeder Mensch trägt diese Bereitschaft in sich, ja, er wird zugleich von ihr getragen, doch in den meisten Fällen weiß er es einfach nicht. Wir übersehen oft unsere Empfindsamkeit – diese Gabe, das Allernächste in uns direkt wahrzunehmen. Wir dürfen blühen wie die prächtigsten Blumen, wir dürfen auch im Schatten stehen, wenn uns das lieber ist, wir dürfen hoch hinauswollen und uns nicht aus unserem Garten rausbewegen, wenn uns nicht danach ist.

Wir dürfen träumen und uns in Vorstellungen verlieren und nach unserem eigenen Rhythmus leben, wir dürfen Hinz und Kunz nicht mögen und Hans und Franz umarmen, wenn wir es so fühlen! Alles ist erlaubt, weil es ja schon da ist. Bedienen wir uns unserer Empfindsamkeit, um uns ganz frei und offen zu erfahren, ganz genau so, wie alles in uns wirklich ist.

Dieses unerwartete Lebensgefühl, das sich dadurch bemerkbar macht, ist es, dass einer ganz neuen inneren Weltauffassung den Weg bereitet. Einer Weltauffassung, in der wir uns der Polaritäten in uns bewusst sind, was uns erlaubt, sie frei zu erleben, statt zwischen ihnen gefangen zu sein.