Die letzte Schwelle - anhören

von Nicole Paskow

Es gibt eine Schwelle im „Inneren“, vor der jeder ernsthaft Suchende irgendwann einmal steht. Manche verharren an diesem Punkt und bewegen sich nicht weiter, denn hier geht es weder vorwärts noch rückwärts. Nichts von dem, was man kennt, greift mehr.

Man hat sich bis zum Erbrechen mit seinen alten Themen auseinandergesetzt, hinterfragt, analysiert, hinter die Kulissen der eigenen Psyche geblickt. Man hat verziehen, verbunden, integriert, Blut und Wasser geschwitzt, sich mit dem „Selbst“ beschäftigt, meditiert, spirituellen Lehrern zugehört, Bücher gelesen, Videos geschaut, Satsangs, Retreats, Seminare und Jahresgruppen besucht. Kurz: Man hat alles getan, was man nur tun kann – oft über Jahrzehnte.

Und dann steht man da – an dieser Schwelle.
Oft merkt man es nicht einmal. Im Gegenteil: Es fühlt sich nicht wie ein Übergang an, sondern eher wie ein Steckenbleiben.
Eine große Ratlosigkeit. Ein „Wie geht’s weiter?“
Man ist mit seinem Latein am Ende, denn es gibt nichts „Neues“ mehr zu entdecken.

Verloren im bekannten Gelände

Alle großen Lehren sind durch, alle kleinen auch. Alles, was jetzt noch kommen könnte, wäre die Abwandlung der Abwandlung irgendeines Gedankens, einer Idee, einer Lehre, die es längst gibt. Und man fühlt sich immer noch genauso wie am Anfang.

Hier und da ist etwas leichter geworden, sieht man sich selbst anders, vielleicht nicht mehr ganz so eng. Aber in der Tiefe – wenn man ehrlich ist – hat sich nichts verändert.

Allmählich stellt sich eine leise Ernüchterung ein. Eine, die innerlich hohl ist, eine Empfindung, die sich wie eine hintergründige Resignation anfühlt. Wie ein Versprechen, das nicht eingelöst wurde. 

Die Hoffnung verglimmt

Die Hoffnung, die einen so lange getragen hat, die einen bei der Stange hielt, verglimmt – wie ein Kerzenlicht, das langsam abbrennt.

Und langsam beginnt etwas anderes zu dämmern. Ganz weit hinten. Fast nicht sichtbar, wie ein Nebelstreif am Horizont. Etwas in uns will gar nicht hinsehen – und doch wird es bemerkt.

Ich möchte ein Bild dafür verwenden, das ich immer rätselhaft fand und das hier doch passend ist:
Etwas in mir wurde immer still, wenn ich vom Fluss Styx gehört oder gelesen habe – dieser magischen Grenze, die die Lebenden von den Toten trennt.

Die Schwelle des Styx

Und da ist dieser Fährmann auf dem Boot, eine gesichtslose Gestalt, in einen dunklen Umhang gehüllt, die die Wartenden über diesen lautlosen Fluss bringt.

Mich hat diese Grenze immer angezogen. Wohin führt sie? Was ist dort?

Es ist genau diese Grenze, vor der wir stehen, wenn wir am Ende der Suche angekommen sind.
Am Ende der Suche bedeutet hier: Am Ende aller Erkenntnisse, die wir erlangen können. Am Ende aller Sichtweisen über uns selbst und das Leben, die wir lernen und verstehen konnten.

 Am Ende des Wissens

Ja, es gibt sie, diese Grenze am Ende des Wissens und aller geistigen Konzepte, aller Gedankengebäude, am Ende aller Lehren und Weisheiten.

Und auch am Ende aller Tränen, die wir um uns selbst und andere geweint haben – genauso wie am Ende der größten Freuden, die wir je erlebt haben oder noch erleben könnten.

Die Grenze beginnt da, wo die Leere anfängt. Wo wir erkennen, dass nichts mehr greift, dass nichts von dem, was wir materiell, geistig, energetisch oder emotional erworben haben, uns an den Ort in uns selbst bringt, den wir uns ersehnt haben.

Warten auf den Fährmann

Hier stehen wir am Fluss Styx und warten auf den Fährmann. Und es bleibt nur noch eine Frage übrig: Wann kommt er, um uns überzusetzen?

Hierfür gibt es keine Zeit. Keinen Termin, keine Regel.
An diesem Punkt gibt es nichts mehr zu tun. Und genau das ist die größte Schwierigkeit: zu verstehen, was es bedeutet, nichts mehr zu tun.

Was heißt es, so still in mir zu werden, dass sich nichts mehr regt?
Nichts. Mehr. Regt.

Der Nebel der Angst

An diesem Punkt wird klar: Im Grunde ist schon jeder Gedanke eine Regung. Müssen jetzt die Gedanken verschwinden?
(Der Fährmann lacht irgendwo hinter dem Nebel und stellt sich auf eine weitere Pause ein.)

Das Paradoxe ist:
Nichts muss verschwinden, damit die Stille eintritt, die den Fährmann auf den Plan ruft.
Aber der Nebel muss sich lichten.

Der Nebel ist eine Atmosphäre von Angst, die alles einhüllt, um nicht deutlich zu sehen.

Die Macht des Loslassens

Als würde klare Sicht etwas abfallen lassen, das irgendein Teil von uns noch behalten will.
Als müsste ich mein letztes Hemd anbehalten, weil ich Angst vor meiner totalen Nacktheit habe.
Da ist noch ein letzter Rest, der festhält – und nicht einmal genau weiß, was er da festhält.

Ich bin immer dafür, die Grenzen zu respektieren.
Wenn es nicht weitergeht, dann geht es nicht weiter.
Das bedeutet aber nicht, dass es so bleiben muss.

Die leise Überfahrt

Ich warte darauf, dass der Ruf, der mich über den Fluss tragen will, stärker und stärker wird, bis mein Wille größer ist als die Angst.

Das ist der Moment, an dem die Nebel verschwinden.
Von ganz allein.
Und der Fährmann erscheint – langsam gleitend über das lautlose Wasser, genau auf mich zu.

Ich steige ein. 

Das Alte hinter mir

In diesem Moment ist alles vorbei.
Das Alte liegt hinter mir.

Was ist das Alte?

Mein gesamtes bisheriges Leben.
All meine Träume, Hoffnungen, Sehnsüchte.
Meine Freuden, mein Leiden, mein Bangen.

Alles, was mich in der Welt gehalten hat, um eines Tages etwas von der Welt zu bekommen.
Etwas, das mich endgültig glücklich machen sollte.
Etwas, das mich erlösen sollte von allem Schmerzvollen, Unangenehmen, Traumatischen und Ungeliebten in mir.

Während ich im Boot sitze, werfe ich keinen Blick zurück.
Da ist kein Verlustgefühl.
Es ist, als hätte ich gar nichts zurückgelassen. 

Gebet und Ursprung

In mir ist es still und ruhig.

Ich bin an einem Punkt in mir, der keine Richtungen mehr kennt.
Es geht weder vorwärts noch rückwärts.
Ich sehe nichts mehr vor oder hinter mir.

Es gibt nur dieses stille Dasein.
Als hätte die Zeit aufgehört.
Und dennoch bin ich da.

Und dann erkenne ich das Gebet:
Das Gebet ist die Liebe.

Die Liebe als Heimkehr

Die Liebe, die aufscheint und aufsteigt, weil nichts mehr festhält.
Die Bedeutung all dessen, was ich einst für mein Leben hielt, hat sich aufgelöst.

Das ist der Übergang.

Die stillen Wasser des Styx verschlingen die Bedeutung – und schenken die Liebe.

Nur darum zieht es uns „nach Hause“.

„Zu Hause“ heißt:
Die Bedeutung darf schwinden.
Sie darf sich niederlegen und ausruhen.

Und nichts muss sie je wieder aus ihrer Ruhe wecken.

Jenseits von „Ich und Mein“ liegt die Liebe, die Stille, die Klarheit, die grenzenlose Soheit des Daseins.

Die Schönheit jenseits der Welt

Etwas überwältigend Schönes – jenseits der bekannten Schönheit.
Nicht als Gegenwelt zum Hässlichen, sondern als reines Licht.

Wie das Glitzern des Sonnenlichts auf dem Meer, das innerlich zum Schweigen bringt.
Wie das Spiegelbild des Himmels in einem Tautropfen, der am Morgen auf einem Grashalm schwankt.

Diese Schönheit ist das äußere Abbild unseres Ursprungs.

Wer sie sehen kann, hängt nicht mehr an sich selbst.
Wer sie spüren kann, ist aufgegangen im Wind, im Rascheln der Blätter, im Regen, in den Herzen aller Menschen.

Nichts lässt ihn mehr vor der Liebe zurückschrecken.
Nichts.

Die Rückkehr in das wahre Selbst

Sie ist das Einzige, was zählt.
Sie ist das, was bleibt, wenn alles gegangen ist.

Sie ist die Offenbarung.
Der Urgrund der Schöpfung.

Es ist, als hätte ich meinen Finger in Gold getaucht – und alles Gold hätte mich eingefärbt.

Fortan trage ich dieses Gold in mir:
als tiefste Berührung, als Anbindung an MICH SELBST.

Das ist der Ort, aus dem heraus ich lebe.

Das namenlose Ich

Das ist das ICH, das die Wahrheit spricht, weil es die Wahrheit ist. Dieses Ich hat keinen Namen. Keine Eigenschaften. Keine Qualität.

Es leuchtet aus sich selbst heraus – grundlos, absichtslos. Es ist das Ziel jedes Menschen – und gleichzeitig sein Ursprung.

Nichts ist schwerer, als mit einem offenen Herzen schutzlos in der Kälte menschlicher Abgrenzung zu stehen und es nicht zu verschließen.

Doch es wird leicht, wenn Dein Herz in der Gewissheit schwingt, dass der Ursprung aller Existenz die reine Liebe ist – klar und sanft, stark und berührbar –  sobald sie Dich vollständig erfasst hat.

 

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In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.

Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.