Wann ist der Offenheit genug? - anhören
Ich spreche oft davon, wie wesentlich es ist, allem, was in uns auftaucht, offen zu begegnen – ganz besonders dem, was wir sonst abwehren: Angst vor Zurückweisung, vor Nähe oder Distanz, vor Ohnmacht, Bedeutungslosigkeit, vor der Kraft, die in uns selbst wohnt oder vor dem Scheitern in der Liebe. Offenheit bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, sich dem inneren Erleben zu überlassen, sondern bewusst und gegenwärtig zu empfangen, was geschieht – nicht als Reaktion, sondern als stilles Dasein.
Diese Form der Offenheit und Empfangsbereitschaft ist für mich ein Ausdruck mütterlicher, nährender Präsenz. Sie sagt weder Ja noch Nein, sie empfängt einfach – urteilsfrei, weich, aufnehmend. Ein innerer Raum, in dem das Erlebte sich zeigen darf, ohne zurechtgebogen oder analysiert zu werden. Offenheit in diesem Sinne ist kein Ziel, sondern die Wirkung selbst. Sie entsteht aus der Anerkennung dessen, was ist – was wirklich wahrgenommen wird –, ohne Fluchtversuch, ohne Konzept.
Doch was, wenn genau diese Offenheit zu einem neuen Schutzmechanismus wird? Wenn sie, kaum bemerkt, in den Dienst dessen tritt, was sie eigentlich durchlichten wollte?
Wenn Offenheit sich in Tarnung verwandelt
Es ist schwer zu erkennen, denn dieser Punkt tarnt sich nicht plump. Er kleidet sich nicht in offensichtliche Abwehr, sondern in scheinbare Selbstehrlichkeit. Was er vorgibt, ist Selbstreflexion: eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit sich selbst, ein ernsthaftes Hinterfragen. Und doch ist es nichts weiter als ein neues Labyrinth – ein inneres System, das sich selbst schützt, indem es vorgibt, sich auflösen zu wollen, indem es immer besser zu verstehen glaubt, was vor sich geht. Hier beginnt die eigentliche Verwirrung: Offenheit wird zur Bühne, auf der das Ego seine subtilste Rolle spielt, um seine Egozentrik auszuagieren.
Diese Dynamik erkennt man nicht sofort, weil sie sich intelligent gibt – differenziert, analytisch, tiefgründig. Man fühlt sich auf der Spur, glaubt, sich zu befreien, während man sich in Wahrheit immer tiefer in die Schleifen des Gedachten verstrickt. Man kreist, denkt, hinterfragt, schichtet Erkenntnis auf Erkenntnis – und wundert sich dennoch, warum sich im Innersten nichts grundlegend verändert.
Hier braucht es etwas anderes: nicht noch mehr Offenheit, sondern die Bereitschaft, dem vermeintlichen Erkenntnisprozess die Aufmerksamkeit zu entziehen.
Der gordische Knoten – Der Moment des Loslassens
Der Punkt ist nicht, weiter zu verstehen – sondern loszulassen. Nicht, weil es nichts mehr zu verstehen gäbe, sondern weil die Bewegung selbst, die das Verstehen sucht, sich bereits vom Wesentlichen entfernt hat. Es ist der Moment, in dem der innere gordische Knoten sichtbar wird – eine Verstrickung, die sich nicht mehr lösen lässt, weil sie aus sich selbst heraus keine Wahrheit mehr transportiert. Sie funktioniert nur noch über Wiederholung, über emotionale Trägheit, über das unbewusste Festhalten an der Illusion, dass ein Gedanke irgendwann zur Befreiung führen könnte.
Der einzige Ausweg ist nicht weiteres Suchen, sondern der Ausstieg. Ein inneres Nein. Nicht als Abwehr, sondern als Klarheit. Indem wir die Aufmerksamkeit abziehen, entwaffnen wir das Konstrukt. Und was dann zum Vorschein kommt, ist das, was durch all das Denken eigentlich vermieden werden sollte: das rohe, echte Gefühl. Die Verletzlichkeit. Die Tränen. Die zarte Reinheit eines nicht mehr kommentierten Erlebens.
Dieses innere Erkennen – das Loslassen – ist nicht das Ergebnis eines mentalen Aktes, sondern geschieht durch etwas anderes: durch Unterscheidungskraft.
Unterscheidungskraft – Die stille Mitte
Unterscheidungskraft ist nicht dasselbe wie Analyse. Sie ist nicht das Resultat des Nachdenkens, sondern Ausdruck eines Bewusstseins, das genau in der Mitte ruht – im Zentrum des Erlebens. Sie ist wie ein stiller Ort, in dem sich das Geschehen und das Sehen gleichzeitig abspielen.
Denn das ist, was viele übersehen: Wir leben nicht entweder im Erleben oder im Beobachten. Wir befinden uns auf einer Schneide, auf der beides gleichzeitig geschieht. Bewusstsein ist das, was im Schnittpunkt liegt – im schmalen, messerscharfen Raum zwischen innen und außen, zwischen Handlung und Ruhe, zwischen Angst und Stille.
Dort liegt die Kraft, zu unterscheiden: Kommt das, was ich gerade denke oder fühle, aus einem freien, lebendigen Raum – oder aus einem unbewussten Reflex, der sich tarnt?
Wachheit als Grundlage für Freiheit
Diese Frage stellt sich nicht aus einem Konzept heraus, sondern aus einem inneren Gespür. Und dieses Gespür lässt sich nicht erdenken – es wird nur spürbar, wenn wir vollständig wach sind. Wach im Erleben und zugleich still im Sehen.
So wird Offenheit nicht länger zum Prinzip, dem man folgt, sondern zu einem lebendigen Ausdruck innerer Reife. Man ist bereit, alles zu fühlen – aber nicht mehr bereit, jedem Impuls zu folgen. Man ist durchlässig – aber nicht mehr manipulierbar. Man empfängt – aber nicht blindlings.
Das ist vielleicht der eigentliche Sinn von geistiger Freiheit: Nicht alles aufzunehmen, sondern zu erkennen, wann etwas aus der Tiefe kommt – und wann aus dem Bedürfnis, die Tiefe zu vermeiden.
Ein stilles Ja oder Nein aus der Wahrheit
Diese Unterscheidung ist nicht hart, sondern fein. Nicht trennend, sondern verbindend. Sie ist die Brücke zwischen Klarheit und Mitgefühl, zwischen Präsenz und Handlung.
In dieser Haltung braucht es keine Rezepte mehr. Kein Richtig oder Falsch. Kein Dogma, wie man sich verhalten sollte. Was bleibt, ist ein offenes Auge für das, was sich zeigt – und ein stilles Ja oder Nein, das nicht aus Angst kommt, sondern aus Wahrheit.
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Aus meiner eigenen Erfahrung gesprochen, kann man diesen subtilen Mechanismen am besten durch das spirituelle Enneagramm gewahr werden. Das Enneagramm macht uns auf die feinen und feinsten Mechanismen der Selbstabwehr aufmerksam. Ich gebe dazu ein Onlineseminar. Weitere Infos erhältst Du hier: https://nicolepaskow.de/deep-access-online/
In einer Welt, in der das Offensichtliche selten hinterfragt wird, lädt „Ein Riss in der Realität“ dazu ein, tiefer zu blicken und die unsichtbaren Fäden zu entdecken, die unser Sein durchdringen. Dieses Buch versammelt 24 inspirierende Essays, die ursprünglich als Adventskalender auf Nicole Paskows Blog entstanden sind.
Jeder Text öffnet ein neues Fenster in die Weiten unseres Bewusstseins und ermutigt den Leser, die wahre Natur des Menschseins zu erkunden. Es ist eine Einladung, mit den inneren Augen zu sehen und die Klarheit zu finden, die in der Essenz unserer Existenz verborgen liegt.

Nicht noch mehr Offenheit, sondern dem vermeintlichen Erkenntnisprozess die Aufmerksamkeit zu entziehen. Das trifft es auf den Punkt genau.
Die Aufgabe die falsch verstanden wurde, als etwas das es zu erreichen gab.
Aufzugeben weil es schon reicht.
Das lasse ich jetzt erst mal sacken.
Ein herzliches Danke einer Loslasserin. 💫💞💫
Eva 🙂 <3
Liebe Christine,
Ja, manchmal ist genau das der Schritt: nicht noch mehr zu wollen oder zu durchdringen, sondern bewusst die Aufmerksamkeit abzuziehen.
„Aufgeben, weil es schon reicht“ – das hat etwas sehr Friedliches.
Lass es wirken. Und danke fürs Teilen.
Herzlich, Nicole
Liebe Nicole,
da hast Du ja wieder mal sehr spürig den Nagel auf den Kopf getroffen: „zu erkennen, wann etwas aus der Tiefe kommt – und wann aus dem Bedürfnis, die Tiefe zu vermeiden.“
Dieses Erleben von einfach nicht weiterkommen kenne ich gut. Und ich muss zugeben, dass ich mich manchmal -weil ich Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit sehr schlecht aushalten kann- in der Suche nach Antworten verheddere statt es auzuhalten mal keine Antwort zu haben und mich einfach furchtbar zu fühlen.
Es ist ein anstrengender Weg von Scheitern und immer wieder neue Anläufe zu nehmen, mich diesen besonders herausfordernden Gefühlen zu stellen. Und da will etwas in mir es endlich mal leichter haben und geht dann auf neue Antwort-Suche…
Danke, dass Du so zart und behutsam und gleichzeitig stark und durchdringend dafür sorgst, dass wir uns erinnern und aufhören vor uns selbst wegzulaufen!
Alles Liebe
Sabine
Liebe Sabine,
danke für Deine Offenheit.
Diese feine Linie zwischen echtem Fühlen und dem Impuls, sich „verstehend“ davor zu schützen, ist so menschlich – und doch so schwer zu bemerken, wenn man mittendrin steckt.
Dass Du diesen Weg immer wieder gehst, trotz der Schwere, spricht für eine große innere Stärke. Auch wenn es sich oft ganz anders anfühlt.
Und ja – der Wunsch, dass es endlich mal leichter sein möge… den kenne ich auch.
Es ist schön zu lesen, dass meine Worte Dich auf Deinem Weg ein Stück begleiten konnten.
Wir erinnern uns gegenseitig – immer wieder.
Alles Liebe
Nicole
ja Sabine, das was Du kommentierst, trifft’s auch bei mir genau auf den Punkt.
Im Brennpunkt zu bleiben in schwierigen Situationen wie z.B. bei allesvernichtender Kritik, in dieser Schonungslosigkeit der Kränkung, ist schon ganz schön herausfordernd und doch ist es das, was uns weiterziehen lässt = ganz präsent zu sein.
Die Ergebnisse meiner AusweichKonversationen: Wie es ist und wie es nicht ist, ob es ist oder ob es nicht ist, ob es sein sollte oder ob es nicht sein sollte, ob es sein kann oder ob es nicht sein kann. . . bemühen einfach nur weiterhin das Hamsterrad. Soviel weiß ich gewiss.
Und es ist wahrhaft eine Erleichterung!!! wenn die Kraft der Unterscheidung sich mobilisieren lässt und zu Hilfe eilt !!!
So fordernd sie in all ihren Konsequenzen auch sein mag, so erfüllend wirkt sie.
Sie ist ein wahres Kleinod versteckt in uns.
Auch ich dank Dir Nicole für die Erinnerung an sie.
In herzlicher Verbundenheit
Danke Dir, Maja für Deine Worte.
Ja, im Brennpunkt zu bleiben, wenn’s richtig weh tut, erfordert viel Mut und Einsicht in die Notwendigkeit. Und gleichzeitig liegt genau da diese stille Kraft, die uns weiterträgt.
Deine Beschreibung der „Ausweichkonversationen“ kann ich nachvollziehen – dieses gedankliche Kreisen … Und es ist wirklich ein Geschenk, wenn inmitten all dessen plötzlich Klarheit auftaucht.
Die „Kraft der Unterscheidung“ als Kleinod – was für ein schönes Bild. Danke für diese Erinnerung.
Und für die Tiefe, mit der Du teilst.
In Verbundenheit
Nicole